Kevin Devine - Nothing's Real, So Nothing's Wrong

Bereit für eine intime, erkenntnisreiche Erkundung des Innenlebens, mit dem Zweck, die eigene Persönlichkeit zu schützen? 

Das Cover zeigt ein Gemälde von Valerie Hegarty mit dem Namen "Woman In White + Flower Frenzy"

Kevin Devine präsentiert sich aktuell als einer dieser liebenswerten Verrückten, dessen Kopf im drogenvernebelten Wolkenkuckucksheim steckt und dessen Herz einem vielversprechend-unschuldigen Power-Pop gehört. 
Credit: Erik Tanner

Dadurch spielt er in einer Liga mit Kevin Ayers, dem verträumt-sehnsüchtigen Art-Folk-Künstler und Syd Barrett, einem Gründer von Pink Floyd, der in seinen Anfangstagen ein Rezept suchte, wie Pop und Rausch musikalisch zusammenpassen könnten. Die Lösung fand er in Songs wie "Arnold Lane" und "See Emily Play". 

Ganz im Sinne des Zitats "Es muss doch noch einen zweiten Weg ums Gehirn rum geben" des Poeten Peter Rühmkorf, suchte Kevin Devine nach einem Mantra, das in schweren Zeiten für psychische Entlastung und gedankliche Klarheit bei Verunsicherung führen soll. Er entschied sich für "Nichts ist real, also ist auch nichts falsch". Seine Wahl erläutert er so: "Was so beängstigend an all diesen Dingen ist, die um uns herum passieren, ist, dass vieles davon so surreal und zynisch erscheint. Wir haben eine Version der Realität geschaffen, die fast so pervers ist, dass sie nicht real sein kann. Wir müssen einen neuen, gesünderen Blickwinkel finden: Es geht nicht darum, dass ich arm bin, sondern darum, dass der Kapitalismus verdammt kaputt und raubgierig ist. Es liegt nicht daran, dass ich kein richtiger Mann bin, sondern daran, dass unser Bild von Männlichkeit kaputt ist. Es geht nicht darum, dass ich nicht stark bin, weil ich nicht gewalttätig bin, sondern darum, dass der Militarismus alles infiziert hat, was wir sehen." Das sind Überlegungen, die Kevin schon vor längerer Zeit anstellte, die aber leider immer noch hochaktuell sind und einen Teil der Katastrophen, die in der Welt passieren, erklären möchten.

Der New Yorker Singer-Songwriter Kevin Devine brachte im Jahr 2000 als Sänger und Gitarrist der Gruppe The Miracle Of 86 sein erstes Album raus. 22 Jahre später erscheint am 25. März 2022 mit "Nothing's Real, So Nothing's Wrong" sein zehntes Solo-Werk, dessen Songs sowohl den Beatles, Big Star und den dB`s viel zu verdanken haben. Vielfach fragt man sich, ob die erzeugten Töne einem Traum, Alptraum oder Tagtraum entspringen. "Laurel Leaf (Anhedonia)" scheint atmosphärisch alle drei Zustände zu streifen, denn neben beängstigenden Eindrücken werden auch Zuversicht und Glück vermittelt. Eine sorglose Wiegenlied-Harmonie, wohlige Schwebezustände sowie eine infantile Unbeschwertheit sorgen für eine verheißungsvolle Stimmung, die zum neugierigen Entdecken einlädt.

Obwohl es "Override" zunächst eilig zu haben scheint, bekommt der seriöse Song zwischendurch noch eine Denkpause verordnet, in der es gelassen und nachdenklich zugeht. Aber schließlich siegt ein ausgeglichener Sound, der jung gebliebene Herzen in Wallungen versetzt, weil er Schmetterlinge im Bauch erzeugen kann. 
Auf diese Erfahrung baut "How Can I Help You" auf und lässt weiterhin Optimismus walten. Der eingängige, freundliche Pop-Song bleibt nämlich durchgängig ein eingängiger, freundlicher Pop-Song. 
Beständigkeit, Panik, Hektik, Feierlaune, alles ist drin in "Swan Dive", einem Lied, das ein Sammelsurium an Gefühlen zulässt und damit im Wesentlichen einen Teil der Vielfalt des Lebendigen abbildet.

Sirrende Töne, die sich anhören wie ein Schwarm Hornissen, leiten die Single "Albatross" ein und werden durch eine Gesangs-Stimme, die aus einem alten Grammophon zu kommen scheint, ergänzt. Diese Gimmicks lösen sich in Wohlgefallen auf und weichen klaren Strukturen, sowohl gesanglich wie auch instrumental. Es entsteht ein kammermusikalisch angehauchter, rauschhafter Folk-Rock-Sound, der sich auch mal an die vibrierenden Anfänge des Songs erinnert, aber im Großen und Ganzen nach einem üppigen Klangbild, himmlisch-kindlichem Vergnügen und ausgeklügelter Spinnerei strebt.
"If I'm Gonna Die Here" klingt wie eine vergessene, in wehende Analog-Synthesizer verliebte Proberaum-Aufnahme für das "White Album" der Beatles. Die romantisch-verträumte Melodie wirkt schüchtern und wird von einem halluzinogenen Folk-Rock getragen. 
Der entzückende, cremige Charme von "Someone Else's Dream" lädt zum Innehalten und konzentrierten Hören ein. Die feinnervige Melodie geht verschlungene, aber positiv gestimmte Wege und lässt sich vielschichtig-sensibel unterstützen. Das geht zu Herzen!

"Hell Is An Impression Of Myself" stellt die eben gehörte, selbstverständlich-unschuldige Leichtigkeit in Frage, indem das Stück zurückhaltend-skeptisch daherkommt. Gedankenverloren streichelt der Gesang bedächtig die Gehörgänge und die betörend-aparte Instrumentierung nimmt uns in eine geruhsam-berauschte Klang-Wunderwelt mit. Der Power-Pop von "It's A Trap!" verbreitet danach schlagartig eine gelöste, achtsame Stimmung, scheut jedoch oberflächliche und durchsichtige Methoden, so dass der Ohrwurm seine anziehende Wirkung lange beibehält.

"Tried To Fall In Love (My Head Got In The Way)" ist ein Song, der aus dem Repertoire von Crowded House oder Del Amitri stammen könnte. Dieser gut abgehangene, ausgereifte Track hört sich zudem wie ein Pop-Klassiker aus den 1960er Jahren an, ohne zugleich angestaubt zu erscheinen. Hypnotische Monotonie sowie eine poetische Verspieltheit bekommen bei "Stitching Up The Suture" einen sinnvollen Platz zugewiesen und reichern sich gegenseitig mit ihren jeweiligen verlockenden Fähigkeiten an, so dass sich die monotone Taktung und die wehmütige Stimmung zu einem wohltuend geistreichen Erlebnis vereinen.

Auf der Bandcamp-Seite von Kevin Devine steht geschrieben: "In einfachen Worten: "Nothing's Real, So Nothing's Wrong" ist ein erwachsenes Trennungsalbum, von Kämpfern für Kämpfer, ein Dreh- und Angelpunkt für das 10. Album, das von zwei langjährigen Kollaborateuren und ihren gemeinsamen (und getrennten) Obsessionen akribisch zum Leben erweckt wurde. Die Mission: eine Reihe von destabilisierenden Lebenserfahrungen in etwas musikalisch Dynamisches, Progressives und Expansives umzuwandeln..."

Ganz schön bedeutungsschwanger sind die Erklärungen rund um das neue Album, die eine schwere Kost und eine Kopflastigkeit der Klänge ahnen lassen. Diese Sorge ist aber unbegründet. Die Musik ist selbst dann unkompliziert und leicht, wenn sie von Melancholie durchzogen wird. Die ausgewogene Balance zwischen Rausch und Realität macht einen speziellen Reiz aus und lässt den Kompositionen den Freiraum, den sie benötigen, um entspannt und spannend zugleich klingen zu können. So macht Seelenstriptease richtig Spaß!

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