Beirut - Artifacts

"Artifacts" zeigt die Anfänge der wundersamen und wunderbaren Klangwelt des Zach Condon im Rückspiegel.

"Artifacts" enthält den Untertitel "Collected EPs, Early Works & B-Sides". Es gibt also dieses Mal keine wirklich neuen Sachen von Zach Condon, dem Vordenker von Beirut zu hören, sondern einen Über- und Rückblick, der sich abseits der bisherigen fünf tollen Alben abspielt. Die Raritätensammlung enthält 26 Stücke und ist in vier Bereiche unterteilt: "Lon Gisland, Transatlantique, O Leãozinho", "The Misfits", "New Directions And Early Works" und "The B-Sides".
Credit: Lina Gaisser

Zach Condon, Jahrgang 1986, ist ein Sound-Besessener, der schon im Alter von 11 Jahren im Verlauf einer hartnäckigen Schlaflosigkeit begann, eigene Musik auf einem analogen 4-Spur-Kassettenrekorder aufzunehmen. Er wuchs in Newport News, Virginia und Santa Fe, New Mexico auf, brach die High School mit 17 ab und reiste mit seinen Brüdern durch Europa, wo er den Balkan-Folk lieben lernte. Nach seiner Rückkehr studierte er Portugiesisch sowie Fotografie und veröffentlichte 2007 die hier enthaltene 5-Track-EP "Lon Gisland", nachdem bereits 2006 das erste Album "Gulag Orkestar" unter dem Namen Beirut erschienen war.

Schon mit dem "Lon Gisland"-Opener "Elephant Gun" ist man voll drin in dem auf exotische Weise bewusstseinserweiternden Kosmos von Beirut, der den Eindruck vermittelt, als würden Sounds aus aller Welt konzentriert aufgesaugt und als prächtiges, bunt schillerndes Kaleidoskop wieder abgegeben werden. Mit allerlei Blech-Bläsern, Percussion-Instrumenten, Ukulele und Euphonium wird die vollmundige Ballade mit schmachtendem Gesang so aufbereitet, dass sie trotz sentimentaler Neigung herzhaft und tröstend klingt.
Feuriger Balkan-Pop lässt "My Family's Role In The World Revolution" beben und sorgt für ein schwungvolles Tempo.
Durch ein schwirrend-singendes Akkordeon und ein freundlich brummendes Euphonium in Verbindung mit fremdländischen Trommel- und majestätischen Trompeten-Tönen verschmilzt "Scenic World" zu einer feinen East-Meets-West-Mischung.
Das kurze Intermezzo "The Long Island Sound" hört sich dann wie ein nostalgischer Nachhall von "Scenic World" an.
Wie sehr Jazz und osteuropäische Folklore rhythmisch miteinander verzahnt sind, zeigt "Carousels" turbulent schäumend auf.
Mariachi-Trompeten und die dazugehörigen schnell angeschlagenen akustischen Gitarren entführen die ehemalige Single-B-Seite "Transatlantique" an die Grenze zwischen den USA und Mexiko. Das ist der Border-Sound, auf den auch Calexico einige ihrer Kompositionen aufbauen.
Die geruhsame, mild gestimmte, im Original nur zur akustischen Gitarre von Caetano Veloso vorgetragene Bossa Nova "O Leãozinho" wird von Beirut durch allerhand Instrumente wie Basstrommeln, klingelnde Gitarren und jubilierende Flöten hinsichtlich des Klangvolumens aufgewertet.
Der Bereich "The Misfits" umfasst Songs, die Condon schon mit 14 Jahren verfasste sowie Arbeiten, die zwischen 2001 und 2005 entstanden. Dazu gehört "Autumn Tall Tales": Der Eintönigkeit eines Drum-Computers wird eine bedächtig-herbstbunte Lautmalerei entgegengesetzt. Leichter Cocktail-Jazz, ein stoisch marschierender Rhythmus, eine nachtblaue Trompete und selbstvergessener Singsang lassen das Stück zu einem angenehmen Tagtraum-Begleiter erblühen.
Bei "Fyodor Dormant" hat der Gesang starke Ähnlichkeit mit dem schwelgend-leidenden Ausdruck von Rufus Wainwright. Eine einsame Solo-Trompete sorgt für sehnsüchtiges Fernweh, noch angestachelt von künstlichen, aber dennoch leichtfüßig-karibisch anmutenden Beats. "Ich weiß nicht, ob die Leute, die den Großteil meiner Musik hören, sofort wissen, wie sehr ich als Teenager Synthesizer geliebt habe. Für mich waren sie eine willkommene Flucht aus der damals von E-Gitarren dominierten Musik aus den USA und von Großbritannien, bevor ich das breitere Spektrum der Musik außerhalb dieser engen Mauern kennenlernte", erklärt Zach Condon diesen Abschnitt seiner musikalischen Sozialisation.
"Poisoning Claude" war eines der ersten Stücke, die Zach Condon entworfen hat. Der Synthesizer sondert Töne ab, die sich ständig spiralartig zu drehen scheinen. Auf diese Weise entsteht so etwas wie Kirmesstimmung. Das Konstrukt klingt aber auch nach 1980er Jahre Electro-Pop. Human League kommen in den Sinn. Dieser Track lässt sich voll und ganz darauf ein, ohne Weltmusik-Ambitionen auszukommen.
"Bercy" gehört auch zu den Frühwerken und vermittelt bei gleicher Ausgangslage wie "Poisoning Claude" neben pulsierenden Hintergrund-Tönen zusätzlich eine sakrale Atmosphäre. Das Bohrgeräusch am Ende des Tracks stammt von Zachs Vater, der zur Zeit der Einspielung die Farbe von der Schlafzimmertür schliff, ohne zu wissen, dass da grade ein Meister seines Fachs in den Startlöchern steckte.
Das Akkordeon auf "Your Sails" stammt noch von Zachs Großeltern. Es lässt eine wehmütige maritime Atmosphäre aufkommen und wird erneut von dem traurigen Rufus-Wainwright-Gedächtnis-Gesang getragen.
"Irrlichter" ist ein Synthesizer-dominiertes, instrumentales Stück, bei dem funkensprühende Elemente neben andächtigen Tönen (be)stehen.
Das "New Directions And Early Works" genannte Kapitel beginnt mit Retro-Klängen: Primitive Drum-Sounds und an frühe Computer-Spiel-Untermalungen angelehnte Farfisa-Orgel-Schleifen verleihen "Sicily" einen sympathischen Do-It-Yourself-Charme. Dem gegenüber stehen schunkelnde Sounds und ein sehnsuchtsvoller, betörend anschmeichelnder Gesang. Gegensätze ziehen sich auch hier behutsam an.
"Now I'm Gone" brachte den Beirut-Chef an seine Grenzen. Monatelang hatte er versucht, einen Sound, den er im Kopf hatte, in die Wirklichkeit zu überführen. Ausschweifend und impulsiv sollte er klingen, als würde er bluten. Die auf Tape gebannten Schwingungen lassen an die Bergung von Rhythmen indigener Völker denken, über die spirituell-ehrfürchtige Noten gelegt werden.
Eine erbauliche Farfisa-Orgel entführt "Napoleon On The Bellerophon" in andachtsvolle Klang-Räume, die von einem würdevoll-selbstbewussten Piano gefüllt werden, bevor eine Hoffnungs-Offensive die bedrückende Tristesse wegspült. Eine gewisse Melancholie bleibt erhalten, aber sie wirkt nun konstruktiv und beherrschbar.
Der Folk von "Interior Of A Dutch House" ertönt ebenso universell wie leichtfüßig. "Im Nachhinein klingt es wie eine ziemlich optimistische Melodie von jemandem, der gerade die Schule aus Erschöpfung und Frustration abgebrochen und Angst vor der Zukunft hatte". So ordnet Condon den Track in seine Biografie ein.
Dagegen hört sich "Fountains And Tramways" wie eine Persiflage eines Frank Sinatra-Songs an. Tatsächlich hatte Zach Condon in dieser Zeit wirklich seine Frank Sinatra-, Dean Martin- und Burt Bacharach-Phase.
Der ausgereifte, dunkelgraue Folk-Jazz "Hot Air Balloon" entstand, als der Künstler grade mal 16 Jahre alt war! Das Lied bewegt sich nur langsam vorwärts, ist durch Schwermut belastet und vermag dennoch die volle Konzentration der Hörerschaft auf sich zu ziehen.
"The B-Sides" beinhaltet 7 Stücke. "Fisher Island Sound" wird von einer eiligen Ukulele und trampelnden Trommeln vorangetrieben. Ein fideles Euphonium imitiert irischen Folklore-Schwung und stachelt den Optimismus zusammen mit Blechbläser-Fanfaren noch mehr an. Der Gesang lässt sich davon nicht aus der Ruhe bringen und gibt sich souverän und ausgleichend. Dieser attraktive Weltmusik-Art-Pop ist ein Musterbeispiel dafür, wie Töne Zuversicht und Energie vermitteln können.
So langsam ist "So Slowly" gar nicht. Coolness und Eleganz, gepaart mit ausdrucksstarken, stumpfen Takten lassen auffällige Kollisionen entstehen, die massiv vom lieblichen Gesang abgefedert werden.
"Die Treue zum Ursprung" könnte die Titelmelodie einer komödiantischen Krimi-Serie sein, weil hier Ernsthaftigkeit und Heiterkeit gleichzeitig mitschwingen. Durch die Wiederholung der Motive blickt sogar noch ein meditativer Charakter durch.
"The Crossing" wurde als Auftragskomposition für die Regisseurin Alma Ha`rel geschrieben. Man kann sich das atmosphärisch dichte, gesanglose Stück gut als Untermalung für Dokumentationen aller Art vorstellen oder für den Abspann eines Filmes, so wie vorgesehen.
Das beschwichtigende, verträumte, mit etlichen Klangfarben vollgepackte "Zagora" stammt aus der Zeit, als die Tourneen zum Album "The Rip Tide", das 2011 erschien, anstanden. Das Lied verbreitet eine helle, neugierige und freundliche Stimmung. "Dieser Song erschien mir immer als Soundtrack für die dunkleren Orte in meinem Kopf und die kleinen Momente der Inspiration, die mich durchhalten lassen", kommentiert der Verfasser seine Sichtweise.
Spärliche Dub-Effekte versetzen "Le Phare Du Cap Bon" ein wenig in Wallung. Der Track setzt im Verlauf auf einen gleichförmigen Groove, der durch ein swingendes Jazz-Schlagzeug und elastisch-hallende E-Piano-Akkorde angereichert wird.
Das der japanischen Folklore und dem Rhythm & Blues nahestehende "Babylon" vermittelt einen weiteren Eindruck davon, welch unerschrockener Sound-Mixer Zach Condon ist.

Obwohl es sich bei "Artifacts" teilweise um frühe Einspielungen handelt, gibt es erstaunlicherweise keinen größeren Stilbruch und keine außerordentlichen Qualitätsschwankungen zwischen den Frühwerken und den späteren Einfällen. Condons Handschrift ist stets deutlich erkennbar, er war sich seiner Sache also immer sicher, er wusste genau, wohin er wollte und befand sich außerdem in der Lage, seine Ziele auch passend umsetzen zu können.

Zach Condon ist ein kreativer Tüftler und ein Ausbund an originellen Ideen, die er völlig unabhängig von Moden und Trends selbstbewusst in Szene setzt. Er ist ein Mann mit einer Vision, er steckt den Kopf mal in die Wolken, ist aber auch bereit, auf seine innere Stimme zu hören und dunklere Ecken seiner Seele akustisch zu Wort kommen zu lassen. Seine gedankliche Vorstellungskraft im Hinblick auf die Erschaffung von originellen Sounds muss ähnlich ausgeprägt sein, wie die von Brian Wilson (The Beach Boys) oder Will Holland (Quantic). Ein positiv Verrückter also, der seine Vorstellungen bündeln und zu Songs verarbeiten kann, die überraschen und verzaubern können!

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