The Beatles - Abbey Road (50th Anniversary) (2019)

Ist „Abbey Road“ nun die beste Platte der Beatles? Diese Diskussion wird auch mit der Aufbereitung zum 50-jährigen Jubiläum nicht abreißen.
Spätestens bei den Aufnahmen zum „White Album“ (1968) fing es bei den Fab Four an, zwischenmenschlich zu kriseln. Das lässt sich alleine daran ermessen, dass die Musiker nur bei etwa der Hälfte der dreißig veröffentlichten Songs zusammen im Studio waren. Die Sessions zum nachfolgenden Album gerieten allerdings zum Desaster. McCartney wollte, dass die Beatles bei der Entstehung der Lieder gefilmt werden und so landeten die Musiker schließlich zur Einspielung in den Twickenham Film Studios. Unter dem Arbeitstitel „Get Back“ wurde dort versucht, eine kreative Live-Atmosphäre zu erzeugen.
Aber die Spannungen untereinander waren zu groß und Lennons Paranoia aufgrund seiner Heroin-Sucht sowie die ständige Anwesenheit von Yoko Ono trugen nicht dazu bei, die Stimmung zu glätten. Im Gegenteil: George Harrison verließ kurzzeitig die Gruppe und kehrte nur unter den Bedingungen zurück, dass die Arbeiten im neuen Abbey Road-Tonstudio fortgesetzt würden und dass es in Zukunft keine Auslandskonzerte mehr geben dürfte. Im Schlepptau hatte er den Organisten Billy Preston, der nicht nur den Sound erweitern, sondern auch als „Außenstehender“ indirekt dafür sorgen sollte, dass sich die Streitereien in Grenzen hielten. Das klappte aber nicht und so landete das fertig gestellte Material zunächst im Archiv. Aufgrund der Schlichtung von Paul McCartney willigten alle Bandmitglieder nochmal ein, ihre Querelen zu beenden und ernsthaft an einem neuen Werk unter größerer Beteiligung ihres Produzenten George Martin zu arbeiten. Diese Vereinbarung läutete am 16. April 1969 die Entstehung von „Abbey Road“ ein. Die Aufnahmen dauerten dann bis zum 19. August 1969. Am 20. September - sechs Tage vor Veröffentlichung von „Abbey Road“ in Großbritannien - verkündete John Lennon intern seinen Ausstieg bei den Beatles und nahm damit das Ende der Gemeinschaft voraus, bevor McCartney die Auflösung am 10. April 1970 offiziell bestätigte.


Es hat den Anschein, dass sich die Beatles nochmal zusammengerissen haben, da jeder ahnte, dass dies ihre letzte Studio-Arbeit sein würde. Jedenfalls waren die Musiker konzentriert bei der Sache und innovativ wie lange nicht mehr. So kaufte George Harrison einen der ersten Moog Synthesizer, der bei vier Songs zum Einsatz kam („Maxwell's Silver Hammer“, „I Want You (She's So Heavy)“, „Here Comes The Sun“ und „Because“). „Abbey Road“ enthält zudem einige unsterbliche Hits, wie Lennons energischen Funk-Blues „Come Together“, der makabererweise mit den geschnalzten, kaum verständlichen Worten „Shoot Me“ beginnt. Längst haben auch die Balladen von George Harrison den Status von Klassikern erreicht: Frank Sinatra hielt „Something“ für den größten Love-Song der letzten 50 Jahre und „Here Comes The Sun“ ist ein Musterbeispiel an Demut, Schönheit und Gradlinigkeit. „Maxwell’s Silver Hammer“ und das von Ringo Starr verfasste und gesungene „Octopus’s Garden“ belegen wiederum die Kunst der Beatles, selbst aus relativ naiven Melodieführungen noch etwas Besonderes zu schaffen. Das gelingt ihnen hier wesentlich überzeugender als bei früheren Versuchen wie z.B. „Ob-La-Di, Ob-La-Da“ oder „Yellow Submarine“. Die nostalgische Rock&Roll-Ballade „Oh! Darling“ wird durch Paul McCartneys außergewöhnliche Gesangsleistung geadelt. Er schreit sich manchmal ekstatisch die Seele aus dem Leibe und steckt seine ganzen Gefühlsregungen in den Song.
Für den ausufernden Hypno-Psycho-Blues „I Want You (She’s So Heavy)“ von John Lennon waren weit über dreißig Einspielungen nötig, bis der Titel im Kasten war. Nachdem das Hauptthema schier endlos wiederholt wird, endet der Track abrupt nach sieben Minuten und 46 Sekunden. Bei „Because“ wurde der Gesang von Lennon/McCartney und Harrison noch zweimal kopiert, so dass ein neunstimmiger Chor entstand. Das barock anmutende Stück wurde von Lennon komponiert und von Beethovens „Mondschein Sonate“ inspiriert. Es klingt trotzdem so psychedelisch, als wäre das Stück für „Sgt. Peppers Lonely Hearts Club Band“ geschrieben worden. Das folgende Medley umfasst acht nicht vollständig fertig gestellte Lieder, die trotz ihrer Unterschiedlichkeit von Paul McCartney und George Martin zu einem zusammenhängenden Erlebnis montiert wurden. Die Meinung über das Ergebnis reicht von „überflüssige Resteverwertung“ bis zu „beachtliche, wagemutige, künstlerisch wertvolle Collage-Arbeit“.
Als Abgesang macht diese Zusammenfügung aber im Nachhinein Sinn, denn sie enthält einige Aspekte, Ideen und Einflüsse, die mit dem Genius der Beatles verbunden werden. So wie die Überleitung von langsamen, ergreifenden Passagen zu lebendigen Bestandteilen („You Never Give Me Your Money“; „Golden Slumbers“ / „Carry That Weight“, „The End“). Auch packender Power-Pop („Polythene Pam“) oder verschachtelte, intelligente Melodien („She Came In Through The Bathroom Window“) kommen zum Einsatz. Abgerundet wird die Auswahl noch durch das meditative „Sun King“, das an „Albatross“ von Fleetwood Mac erinnert und das gemächliche, altmodisch wirkende „Mean Mr Mustard“, welches eigentlich für das „White Album“ vorgesehen war. Dem Tontechniker John Kurlander ist es zu verdanken, dass „Her Majesty“ noch auf „Abbey Road“ gelandet ist. Eigentlich war der 23 Sekunden kurze akustische Gimmick für das Medley vorgesehen, aber Paul schnitt es heraus, weil er es für unpassend hielt. Kurlander wurde aber eingeimpft, keine Aufnahmen zu entsorgen und so hängte er den Bandschnipsel eigenmächtig nach 20 Sekunden Pause an das fertige Tape, bevor es zur Probepressung ging. McCartney gefiel die Idee im Nachhinein und so entstand der erste Hidden-Track der Musikgeschichte, denn bei der Erstpressung der Platte wurde das Stück nicht auf dem Cover erwähnt.
Auf „Abbey Road“ haben die Beatles vieles richtig gemacht. Die Musiker bündelten ihre Stärken und erschufen kluge Songs, die sie mit all ihrer Erfahrung engagiert und einfallsreich umgesetzt haben. Harrison hatte vom Niveau her als Komponist zu Lennon/McCartney aufgeschlossen und McCartney zeigte sich gesanglich ursprünglich rau und spielt traumhafte Bass-Figuren. Der Produzenten-Magier George Martin ist wieder an Bord und gab als fünfter Beatle wertvolle Tipps und moralische Stütze, lässt die Leine aber so locker, damit keine innovativen Ideen verloren gehen sollten. Wollte man jemanden in relativ kurzer Zeit von den Qualitäten und Möglichkeiten der Beatles überzeugen, so sollte „Abbey Road“ vorgespielt werden.
Die Neuauflage des Werkes erscheint als von Giles Martin (Sohn von George Martin) und Toningenieur Sam Okell klanglich überarbeitete Version. Die der Rezension zu Grunde liegende Doppel-CD-Ausgabe enthält neben dem originalen Album eine CD mit „Session“-Aufnahmen, d.h. Studio-Demos oder nicht verwendete Übungsaufnahmen der bekannten Songs. Die technische Sound-Bearbeitung war bei anderen Beatles-Neuauflagen nicht unumstritten, da sie sich zu sehr vom Original-Klang entfernte. Hier wurde umsichtiger vorgegangen: Die Songs haben etwas mehr Volumen und Transparenz erhalten, was als erfrischend wahrgenommen wird. Der Bass wird im Gesamtbild aufgewertet, was allerdings durchaus unterschiedliche Beurteilungen hervorrufen kann. Die limitiere 3 CD/Blu-ray und 3 LP-Editionen haben statt sechzehn jeweils 23 Bonus-Tracks. Auf der Doppel-CD gibt es keine Überschneidungen zu den bereits auf der „Anthology 3“ von 1996 veröffentlichten Studio-Outtakes. Insgesamt sind nur zwei der 23 „Session“-Einblicke bisher bekannt.


Wie das bei solchen nicht verwendeten Einspielungen so ist, gibt es in der Regel einen Grund, warum sie nicht für die finale Zusammenstellung berücksichtigt wurden: Sie waren noch nicht fertig, hatten Fehler oder fielen neuen Erkenntnissen zum Opfer. So verhält sich das auch hier. Alle nicht im Detail an der Arbeitsweise der Beatles interessierten Hörer werden den Bonus-Tracks wohl eher gleichgültig gegenüberstehen. Für Fans sind sie natürlich ein Quell der Freude, weil sie dadurch dem Entstehungsprozess der Lieder ein Stück näherkommen. Die während der Aufnahmen beigesteuerten Kommentare und Zwischenrufe vermitteln zumeist eine gelöste, humorige Arbeitsatmosphäre, was zumindest zeigt, dass die Musiker im Geiste der Musik auch zum Schluss ihrer gemeinsamen Karriere immer noch eine verschworene Einheit bilden konnten.
Erstveröffentlichung dieser Rezension: The Beatles - Abbey-Road (50th-Anniversary-Edition)

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