Kai Liekenbröcker - Klavier

Der Name ist Programm: "Klavier" bietet reine Klaviermusik in verschiedenen Klang-Farben und Stimmungsbildern.

Fakten: Kai Liekenbröcker wurde am 30.12.1964 geboren und lebt aktuell in Essen. Er gibt seit 1982 Klavier- und Keyboard-Unterricht und studierte von 1984 bis 1988 Klavier an der Musikhochschule Hannover. Danach war Kai als Studiomusiker und Tontechniker unter anderem für Fury & The Slaughterhouse, Can, Marius Müller-Westernhagen und Michel Van Dyke tätig. Seit 2013 besitzt Liekenbröcker ein eigenes, auf Vinyl-Produktionen spezialisiertes Tonstudio und betreibt das Label BRAA Recordings.

Spekulationen: "Klavier" beherbergt auskomponierte Improvisationen, sagt Kai Liekenbröcker, was dafürspricht, dass ihm Strukturen und Freiräume gleich wichtig sind. Das ist ein konstruktiver Ansatz, der in ähnlicher Form auch von der Jazz-Formation Weather Report verfolgt wurde, indem sie bekannten: "We always solo, and we never solo." Die Intuition, der zündende Gedanke des Augenblicks und eine deutliche Vorstellungskraft prägen Liekenbröckers Zielverfolgung, wobei eine Improvisation nur dann förderlich ist, wenn sie auf ein bestimmtes Ergebnis hinarbeitet und dieses auch im freien Spiel erkennbar bleibt. Stimmungen werden dabei verstärkt, verschwimmen oder verändern sich.

Höreindrücke: Hinsichtlich der emotionalen Substanz seiner Musik will Kai Liekenbröcker seine Schöpfungen nicht beschreiben. Der Künstler hat ein gutes Recht, solche Einordnungen nicht vorzunehmen, sondern sie seinem Publikum zu überlassen. Diese Aufgabe wird nun mit aller gebotenen Konzentration subjektiv vorgenommen, in der Hoffnung, den Leserinnen und Lesern eine Vorstellung über das Gehörte übermitteln zu können: 

"Duqm" ist eine Hafenstadt in Oman, das sich im Osten der arabischen Halbinsel befindet. Weltmusikeinflüsse lässt das Stück trotz dieser Referenz jedoch nicht erkennen. Es ist überwiegend spritzig, gutgelaunt, hell und offen. Aber lauern zum Schluss nicht doch noch dunkle Wolken am Horizont?
"Il Piacere" bedeutet Vergnügen und ist auch der Name einer Novelle von Gabriele D'Annunzio, in der es dem Titel zum Trotz um eine tragische Liebesgeschichte geht. Das Klavierstück klingt im Grunde genommen leicht beschwingt, es hallt allerdings auch eine milde Melancholie mit. Sollte Kai Liekenbröcker etwa die Novelle kennen und führte deshalb Freud und Leid hier symbiotisch zusammen?

In der griechischen Kultur und in Spanien gilt der Dienstag als Unglückstag, im Judentum allerdings als Glückstag. Der Name kommt aus dem Germanischen und bezieht sich auf Tyr, 
der Gottheit des Kampfes und Sieges. Bei uns hat er als Wochentag kein besonderes Image. Aber was macht das Stück "Dienstags" eigentlich aus? Es ist unaufdringlich, vereint Zurückhaltung und Freundlichkeit in sich, steht aber auch für Zuversicht und Vorfreude. Ein typisches "Am Dienstag ist noch alles möglich"-Stück eben.

Ein Pumpensumpf ist dazu da, eindringendes Wasser loszuwerden. Er besteht aus einem Betonschacht, der am tiefsten Punkt des Hauses angebracht wird, von wo aus Pumpen die Sauerei ableiten können. Das Stück "Pumpensumpf" hinterlässt jedoch keinen technisch-mechanischen Eindruck, so dass man nicht zwangsläufig einen Zusammenhang zwischen Titel und Notenfolge herstellen kann. Ein wenig geschäftige Unruhe ist zwar vorhanden, es gibt aber kein Notfall-Szenario, alles läuft kontrolliert ab, der Musiker hat seine Empfindungen fest im Griff.

Bei der Suche nach "Zilte Zoen" weist das Internet ein Veganer-freundliches Restaurant in Schoorl in den Niederlanden aus. So lecker-abwechslungsreich wie die Speisekarte aussieht, so verheißungsvoll ist auch die Melodie der Komposition, die verborgene Erinnerungen aus der Versenkung hervorholt und an das Gute glauben lässt. Was für eine schöne Illusion!

Achtung, Wortspiel! Steht "Look Inn" für das Gasthaus, welches man gerne besucht? Das ist jedenfalls ein guter Marketing-Spruch, eine Bezeichnung, die wirksam Sympathie verströmt. Der dazugehörige Track verbindet wie selbstverständlich lodernde Leidenschaft mit kindlicher Verzückung.

"Saudade" heißt das Gefühl, welches wir empfinden, wenn eine innig geliebte Person nicht erreichbar ist. Es beschreibt also eine brennende Sehnsucht und eine betäubende Ohnmacht, die zeitgleich auftreten können. Mit welch unbestechlich präzisem Timing und Einfühlungsvermögen genau diese Empfindungen hier in Noten übersetzt werden, ist schon beeindruckend.

"Champing At The Bit" kann als "Voller Tatendrang" oder "Auf den Punkt gebracht" übersetzt werden. Zwei Formulierungen, die nicht als gleichbedeutend gelten, sie tragen aber beide die Merkmale Begeisterung und Energie in sich - genau wie das Stück "Champing At The Bit".

"Knallbrause", auch Knisterzucker oder Brausepulver genannt, ist eine beliebte, prickelnd-süß-saure Süßigkeit, die besonders bei Kindern beliebt ist. Das Klavier schlägt bei "Knallbrause" akustische Wellen, perlt erfrischend, wird mitunter hart angeschlagen, agiert dann wieder zart, bleibt aber stets im tonalen Raum, möchte sich profilieren und schmiegt sich an. 

Bei den Zugaben "Duqm - zurückgemischt" und "Pumpensumpf - zurückgemischt" füllt Kai Liekenbröcker die ursprünglichen, kargen Interpretationen mit weiteren Keyboard- und Rhythmus-Tonspuren auf, so dass die Kompositionen eigentlich nicht zurückgemischt, sondern aufgemischt wurden. Dabei zeigt sich, dass sie ein Doppelleben führen. Ursprünglich erschienen sie noch fragil-intim, in der Bearbeitung erweisen sie sich als robust-aufgewirbelt. Eine Basis - zwei Gesichter. 

Fazit: Kai Liekenbröcker ist ein Klavierlehrer, der seinen Schülern ohne Scheuklappen eine Orientierung geben und Spaß an der Musik vermitteln will. Auch "Klavier" reflektiert diese Einstellung und zeigt, dass der Musiker eine klare Vorstellung davon hat, wie seine Klänge strukturiert sein sollten. Stilistisch ist Liekenbröcker nicht eingeengt, denn seine Themen findet man unter anderem in der romantischen Klassik, im Jazz und im Pop wieder. Seine Flexibilität beweist er mit den Alternativ-Versionen von "Duqm" und "Pumpensumpf", bei denen er den Variationen eine komplett veränderte Fassade verleiht. 

"Klavier" enthält keine intellektuell abgehobenen Verrenkungen und auch keine esoterischen Klangwolken. Die Musik, die zur Zeit nur digital vertrieben wird, produziert authentische Sinneswahrnehmungen, ohne banal oder kompliziert zu sein. Das ist eine gewagte Gradwanderung zwischen Kunst und Kitsch, die aber gelingt, weil es offensichtlich einfach nur um den Ausdruck von ehrlichen Empfindungen geht.

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