Marí - Making Peace With Uncertainty

Im Auge des Wirbels der Melancholie.


Marí heißt vollständig Linda Marí Josefsen und wuchs auf der Insel Mors in Dänemark auf. Sie legt mit "Making With Uncertainty" am 3. November 2023 ein Erstlingswerk vor, dessen Musik von ihr als "nordischer minimalistischer Folk" bezeichnet wird, welcher nicht von gegenwärtig populären Musikrichtungen beeinflusst wurde. Die Kompositionen seien stattdessen "in einem zeitlosen, nachdenklichen und ruhigen, aber dennoch kantigen, düsteren und melancholischen Universum" zu Hause.

Das ist Musik, dessen Zugänglichkeit erarbeitet werden möchte, weil der Charme auch in der Konfrontation mit der textlichen Zurschaustellung von Unzulänglichkeiten besteht. Mit denen wird aber akustisch wahrnehmbar abgerechnet und Frieden geschlossen - genau, wie es der Titel ankündigt. "Wir verändern uns ständig, sind chaotisch und kompliziert, während wir auf natürliche Weise nach den banalsten und einfachsten Dingen wie Sinn, Akzeptanz, Anerkennung, innerem Frieden und Liebe suchen. Wir schätzen das Unvollkommene, weil wir uns damit identifizieren können", kommentiert Marí das Konzept ihrer Platte.

Marí korrespondiert oder interagiert bei der Umsetzung ihrer Vorstellungen in der Regel nur mit wenigen Instrumenten. Wobei ihre stets etwas sperrige Gitarre ein ständiger Begleiter und Schutzpatron ist. Die dänische Musikerin bewegt sich in einem Milieu, welches sich transparent, aber trotzdem raumfüllend, manchmal bis an den Rand zur Avantgarde bewegt. Das geschieht herausfordernd, gängige Abläufe ignorierend und der dunklen Seite des Lebens zugewandt. Als Referenz lassen sich demnach nur wagemutige, Normen sprengende Art-Pop-Werke zitieren, wie "Spirit Of Eden" von Talk Talk, "Ruth Is Stranger Than Richard" von Robert Wyatt oder "Rain Tree Cow", die einzige Platte der Nachfolge-Gruppe von Japan um David Sylvian

Warme, teilweise förmlich gehauchte, sich flächenartig ausbreitende Klarinettentöne krabbeln bei "forget-me-not" auf leisen Sohlen in die Gehörgänge. Sie umschmeicheln die Sinne, die sich auf diese Empathie-Offensive einlassen, um plötzlich der unsicheren Stimme von Marí und ihrer schüchternen akustischen Gitarre das Feld zu überlassen. Aber die Klarinetten-Töne kehren wieder und werden ergänzend von einem sensiblen Piano flankiert. Nichts an diesem Lied ist bösartig, auch wenn sich die Lautstärke allmählich steigert. Das ist eine Art der Dynamik- und Intensitätssteigerung, wie sie auch Kate Bush gerne für ihre Kompositionen verwendet.

"The Morning After" beschreibt eine toxische Beziehung, in der zuerst die Freundlichkeit und dann die Zuneigung verloren ging. Die Stimmung des Liedes wandelt sich im Verlauf von Niedergeschlagenheit zu Wut. Dieser emotionale Spagat wird instrumental pikant in Szene gesetzt und folgt dabei der textlichen Vorgabe. Der Gesang und die akustische Untermalung bilden somit eine homogene Einheit.

Der Synthesizer brummt vollmundig, kräftig und wohlgesonnen wie ein sanfter Riese, der versucht, ein Lied zu summen. Diese Einleitung zu "Taxi Driver" wird von der leidenden und mit einem unnatürlichen Tremolo versehenen Stimme von Marí abgelöst. Die Akustik-Gitarre begleitet diese Tristesse stoisch-monoton und alsbald unterstreicht ein Cello jene dunkle, fröstelnd machende Befindlichkeit. Es dauert nicht mehr lange und ein grollendes E-Gitarren-Feedback zerreißt die wehmütige Untermalung mit zerrend-wilden Tönen. So plötzlich wie das Feedback-Monster aufgetaucht ist, verschwindet es auch wieder und es kehrt ein trügerischer Frieden ein. Die dargestellten Kontraste passen zu den Formulierungen der Poesie, die anscheinend Ausdruck einer geschundenen Seele und eines missbrauchten Körpers sind.

Trockene Gitarren-Akkorde lassen "Periphery" zunächst sperrig wirken. Selbst der leise Gesang trägt nicht zu einer Auflockerung der Lage bei. Er wirkt eher unbeteiligt, um nicht desillusioniert zu sagen. Aber plötzlich kommt Leben in den Ablauf und es wird ein staubiger Rock-Rhythmus aufgebaut, der den Track aus dem Sumpf der Gleichgültigkeit und den Auswirkungen einer verkorksten Jugend herausholt.

Kann denn eine schmerz- und leidvolle Beziehung Liebe sein? Diese Frage stellt sich beim Hören der Sozial-Studie "Never Meant No Harm". Die in Moll gestimmte Orgel gibt eine traurige Grundstimmung vor und das Schlagzeug macht das zähe Vergehen von Zeit in einer unangenehmen Situation hörbar. Der sanft-zärtliche Duett-Gesang legt sich wie eine weiche Decke auf die betrübten Schwingungen, aber die harsche oder übersteuerte E-Gitarre sägt und zerrt punktuell an den harmonisch aufkommenden Zwischentönen. Im instrumentalen Schlussteil steigern sich die Klänge zu einem Inferno, das in einem abrupten Abbruch endet, der das absolute Nichts bedeutet.

Es ist Zeit für die Darstellung von weiteren Gegensätzen! In "Untitled" heißt es: "Ich fühle mich steif in meiner Haut, weil ich meinen Körper immer noch hasse". Eine fürchterliche Vorstellung, die man nicht lange aushalten kann. Den Gegenpol zu dieser entblößenden Aussage bilden dann Teile der Musik, die so lieblich sind, dass sie ein aus unschuldigen Sounds zusammengesetztes, märchenhaftes Glück symbolisieren.

Die Mandoline züngelt für "Reptile" wie eine Schlange auf Beutezug. Marí singt über weite Strecken wissend und ausgeglichen wie Margo Timmins von den Cowboy Junkies. Der Song kombiniert wie selbstverständlich die Geborgenheit eines Wiegenliedes mit der Abenteuerlust eines Psychedelic-Rocks. Inhaltlich und musikalisch wird versucht, Eigenschaften eines Reptils auf die Gefühlslage der Protagonistin zu übertragen: "Denn ich bin wie ein Reptil im Sand. Sehnsucht nach der Sonne, um meine Lungen aufzuwärmen. Ich bin wie ein Reptil im Sand. Ich verliere meinen Schwanz, um vom Schmerz abzulenken."

"Endless Beaches" kokettiert mit provokanten Gedankenmodellen: "Was wäre, wenn der Himmel nur ein Loch im Himmel wäre, ein gefühlloser Kontakt mit unendlicher Zeit?" oder "Was wäre, wenn der Himmel nur ein Geisteszustand wäre, ein ruhiger Abgrund, wenn das Leben unfreundlich ist?" Bei solch einem gedankenschweren Überbau muss eine freundlich gesonnene Pop-Melodie her, um die Last abzumildern. Genau solch ein Spannungsverhältnis zwischen Yin und Yang, Spaß und Ernst oder Lust und Frust kommt hier zum Tragen.

Abisko ist ein Ort in Schweden, der nördlich des Polarkreises liegt und vor dessen Toren sich ein Nationalpark erstreckt. Das Lied "Abisko #2" beinhaltet eine unromantische, dafür ehrliche Liebesgeschichte, die von den Stimmen des dänischen Künstlers Hjalte Ross und von 
Linda Marí Josefsen getragen wird. Ein Klarinetten-Solo scheint den Liebenden bei diesem gefühlvollen Song ein Bett aus Rosenblättern zu bereiten. Das ist anspruchsvoller Kitsch für Fortgeschrittene.

"Uncertainty" ist die erste Single-Auskopplung aus dem Album. Marí spricht davon, dass sie ihren Frieden mit der Unsicherheit geschlossen hat, ohne dabei jedoch ziellos durchs Leben zu gehen. Und das alles ist möglich durch die Kraft der Liebe ("Die Liebe, die wir teilen, ist die Essenz des Seins"). Der Track verströmt eine gelöste Atmosphäre, die körperlich spürbar ist und mit Seelenfrieden gleichzusetzen ist. Selbst, wenn das Saxofon einmal kreischt, ist das ein Ton der Befreiung oder Lust und nicht der Angst oder Beklemmung.
"Keep My Light On" ist eine Ode an die Hoffnung, die zuletzt stirbt, die Toleranz, die immer von Neuem trainiert werden muss und das verbindende Vertrauen, welches der Klebstoff jeder Beziehung ist. Das sind intime Gefühle und beinahe heilige Tugenden, die eine entsprechend sensible Vertonung verdienen und auch bekommen. Das Stück wird als eine introvertierte Piano-Ballade inszeniert, die kurz vor Schluss noch eine Streicher-Veredelung erhält. 

Marí hätte sich keinen besseren Zeitpunkt für die Veröffentlichung ihrer Platte aussuchen können, denn "Making Peace With Uncertainty" ist Herbstmusik, wie sie im Buche steht. Töne, so Blick-verhangen wie Nebel, Stimmungen, so nachdenklich wie Gottesdienste und Verheißungen, so undeutlich wie unverbindlich ausgesprochene Versprechungen wurden intelligent in Klänge umgesetzt. Sensibilität und Authentizität sind die Eckpfeiler dieser Songs, die sich im Auge des Wirbels der Melancholie befinden.

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