OY - World Wide We

Toleranz, Mitgefühl und Solidarität: OY stehen für das gleichberechtigte Miteinander ein.

Da sich die Wiege der Menschheit in Afrika befunden hat, ist es sehr wahrscheinlich, dass sich dort auch die ersten musikalischen Aktivitäten herausgebildet haben. Diese Klänge waren sicher sehr körperbetont, denn noch heute finden sich ausgeprägt rhythmische oder polyrhythmische Tonfolgen in den ethnischen Überlieferungen. Solche Schwingungen werden auch in die zeitgenössische Pop-Musik übernommen. Sie werden nicht nur von schwarzen Musikern adaptiert, sondern auch von Weißen sehr geschätzt. Als populäre Beispiele dafür seien besonders "Graceland" von Paul Simon und "Remain In Light" der Talking Heads erwähnt und hervorgehoben.

Das in Berlin lebende Duo OY, welches aus der Sängerin und Keyboarderin Joy Frempong, die ghanaische Wurzeln vorweisen kann und dem Schweizer Schlagzeuger, Komponisten, Gelegenheits-Sänger und Produzenten Marcel Blatti besteht, atmet, lebt und liebt den Sound Afrikas, was aus jeder Note der Kompositionen für ihr viertes Album "World Wide We" leidenschaftlich und herzlich hervorquillt.
"World Wide We" ist kein gewöhnliches Song-orientiertes Album geworden, sondern bedient sich darüber hinaus den Möglichkeiten eines Hörspiels, eines Musicals oder einer vertonten Theater-Vorstellung. Das Werk wird nämlich mit Spoken-Word-Reportagen, Umwelt-Geräusch-Samples und fremdartigen Effekten gespeist, so dass es einen spielerisch-fantasievollen Charakter mit einem erzählerischen Hauptgewicht erhält.

Die einzige Konstante im Leben ist der Wandel. Klingt merkwürdig, ist aber so, auch wenn wir uns das manchmal anders wünschen. Dennoch gibt es etliche Bereiche, in denen der notwendige Wandel nicht schnell genug geht oder der Wandel in eine falsche, Menschen verachtende Richtung führt. "Alchemisten suchten nach Langlebigkeit und erfanden versehentlich Schießpulver", heißt es dazu in "Have We Changed", einem Track, bei dem der Veränderungsprozess aus unterschiedlichen Positionen heraus beleuchtet, in Prosa-Form vorgetragen und dramatisch pulsierend in orchestraler Weise dargestellt wird.

Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied. Das ist im Grunde genommen eine der Aussagen von "Now Be The Time". Joy Frempong bedient den frühlingsfrischen Pop-Song mit positiven Gesangs-Einlagen, so dass gar keine Gedanken daran aufkommen, dass die Zukunft anders als blendend aussehen könnte.
Es gibt viele vermeintliche Tatsachen, die kritisch hinterfragt werden sollten: Warum ist das eigentlich so, wie es ist? Genau das macht "How Many" und fragt zum Beispiel: "Wie viele Lügen kann ein Volk ertragen? Wie viele Ungeheuer werden wir krönen?" Und ernüchternd folgt das Resümee: "Nun, vor nicht allzu langer Zeit schauten wir Menschen in den Himmel und dachten, wie schön es wäre, zu fliegen wie die Vögel. Und jetzt, einen historischen Wimpernschlag später, schauen wir in diesen Himmel und es ist nichts mehr da. Außer Flugzeugen, Kränen und verschmutzten Wolken. Ich denke, man kann sagen, wir haben es ziemlich versaut." Aber auch bei diesem von Problemen behafteten Text taucht musikalisch keine Wut oder Trauer auf. Die Töne sind sonnig, der Refrain ist eingängig und die Melodie klingt eher nach Kinderlied als nach Protest-Song.
Der textliche Inhalt von "Interlude - Africa Is Rich" macht zu Recht darauf aufmerksam, dass Afrika grundsätzlich ein reicher Kontinent ist. Das ist sowohl als Fluch wie auch als Segen zu betrachten. Das Dilemma besteht darin, dass die heutigen humanitären Katastrophen auf diesem Reichtum beruhen, denn durch Kolonialisierung und Ausbeutung wurden viele Länder ins Elend getrieben. Aber es gibt auch eine Chance für die Zukunft, wenn sich die Völker des schwarzen Kontinents zu einer Wirtschaftsgemeinschaft zusammenschließen würden, um ein Gegengewicht zu den anderen Wirtschaftsmächten zu bilden. Das Potential des Kontinents hat aktuell leider auch die chinesische Regierung erkannt und für sich genutzt. Sie hat sich durch Käufe und Beteiligungen einen großen Einfluss verschafft, was die Autonomie der afrikanischen Staaten weiter stark einschränkt. "Die Ressourcen müssen verantwortungsvoll und rechenschaftspflichtig verwaltet werden. Sie müssen gerechter verteilt werden", heißt es deshalb auch in dem durch klagende Stimmen umsäumten Statements des Spoken-Word-Zwischenspiels "Interlude - Africa Is Rich".
Die Leichtigkeit und die rhythmische Herausforderung des folkloristischen Afrikas und die melodische Feinfühligkeit des Pop treffen danach für "Common Ground" aufeinander. Es geht also darum, kulturelle Gemeinsamkeiten zum Nutzen einer künstlerischen Entwicklung zu finden oder zu bilden.
"Interlude - Born In Translation" ist ein weiterer Wortbeitrag, der zum Nachdenken anregt: "Die Art, wie du mich ansiehst, sagt mehr über dich selbst aus, als es über mich erzählen könnte". So definiert OY die Psychologie der zwischenmenschlichen Begegnungen.
Es kommt nicht von ungefähr, dass "Place Des Clichés" in Französisch und nicht in Englisch gesungen wird. Das von elektronischen, fiepend-sirrenden Tönen begleitete Lied lebt schließlich von der attraktiven Melodik des Chansons und verknüpft diese mit einem optimistisch gestimmten Rhythmus-Teppich, so dass das Stück sowohl seriös wie auch beflügelnd wirkt. Es werden wiederum Schubladendenken und verfestigte Vorurteile angeklagt ("Ich kenne von jedem seine Rolle. Die Dicke, der Schwarze und die Verrückte.") und es wird Toleranz eingefordert ("Ich will, dass du mich ansiehst. Als ein verantwortungsvolles Wesen.").
Nur wenn Codierung und Dekodierung funktionieren, können sich Menschen inhaltlich und emotional verständigen. Diese Schwierigkeit bildet die Grundlage der Thematik von "Gougle Translate". Die Gedanken werden von der ausgeglichenen, geschmeidig fließenden Stimme von Joy Frempong ohne Aggressionen im Unterton in einen freundlich-unkomplizierten Afro-Pop transferiert. Das ist ein gelungenes De-Eskalations-Verfahren.
Unfasslich, dass solch ein Verhalten immer noch in den USA an der Tagesordnung ist: "Sie schießen ihm 'ne Kugel in den Rücken. Sie schießen ihm dreifach in den Kopf". Polizeigewalt auf offener Straße, häufig gegenüber der schwarzen Gesellschaft. "One On The Row - BLM" macht nochmal darauf aufmerksam, dass sich dieses Vergehen nicht geändert hat: "Nun stellt das Feuer ein, stellt das Feuer ein. Black Lives Matter, Black Lives Matter". Im Gesang schwingt Melancholie mit, aber auch trotzige Empörung. Das passt zum Gesamtbild des Songs: Was als Ballade beginnt, entwickelt sich im Laufe der Zeit zu einer hymnischen Auflehnung mit einem kämpferischen Anspruch.
Da gehen die Ansichten auseinander: Quantic meinen, "Time Is The Enemy", OY behaupten, "Time Is Your Best Friend". Gemeint ist, dass manche Menschen durch die tägliche Hektik keine Zeit mehr für die wichtigen Dinge des Lebens aufbringen, weil sie nur noch funktionieren, statt zu genießen oder Situationen konstruktiv zu verarbeiten. Damit die Zeit der beste Freund wird, haben OY einen Tipp: Umarme und pflege die Zeit, ganz oft, jeden Tag wieder. Verbringe also viel Zeit mit der Zeit. "Time Is Your Best Friend" wird entsprechend als milder, beruhigender Sinnspruch und als Kraft spendendes, ins immaterielle gleitende Lied aufgebaut.
"Life Cars Phones" ermittelt, dass es zwei "Lieblingskinder" der Menschen gibt, um die sich einiges im Alltag dreht und die anscheinend unverzichtbar geworden sind: Das Auto und das Smartphone. Die Musik dazu hat etwas Albernes, macht sich quasi lustig über diese Abhängigkeiten und hilft dabei, den Tatbestand ins Lächerliche zu ziehen.

Und schon kommt mit "Interlude - Global History" der nächste Gedankenanstoß: "Im Grunde genommen wird uns die Geschichte unserer jeweiligen Nationalstaaten beigebracht, und vielleicht bestenfalls die der Regionen oder Kontinente, zu denen unsere Länder gehören. Das bedeutet, dass wir größtenteils nicht wissen, was in den verschiedenen Teilen der Welt passiert ist und wie die verschiedenen Völker der Welt die moderne Geschichte erlebt haben. Das ist also ein Problem, das überwunden werden muss, und eine Möglichkeit, es zu überwinden, ist das Schreiben einer globalen Geschichte."
"Pool" ist ein von Verdruss durchzogener Art-Pop-Jazz mit Tiefgang. Filigran gesetzte E-Piano-Töne und eine mysteriös klingende Stimme erzeugen eine unergründliche Atmosphäre, die zum Schluss durch nervös klopfende Keyboard-Sequenzen eine Furcht einflößende Wendung vollzieht. "Siehst du den Pool, der für den Westen reserviert ist? Wo ist die Chance für den Rest", fragt Joy Frempong eindringlich und besorgt.
Jetzt kippt die Stimmung beinahe endgültig von hoffnungsfroh in hoffnungslos. "Hopeless Paradise" findet keine Zuversicht: "Du siehst, wie die Spannungen zunehmen. Und sie werden an ihren Lügen festhalten", lautet eine Zeile, bei der die Resignation jeglichen Mut vertreibt. Passend dazu gibt es eine mit taktvollen, unaufdringlichen, nebulös-dunklen Effekten aufgeladene, schleppende Piano-Ballade. Das letzte Wort in diesem Trauer-Reigen ist dann zum Glück aber doch "Hoffnung".
"Wir sind aufgerufen, der Erde zu helfen, ihre Wunden zu heilen und dabei unsere eigenen zu heilen - ja, die ganze Schöpfung in all ihrer Vielfalt, Schönheit und Wunder zu umarmen". Das ist eines der letzten Statements, welches mit "Interlude - American Astronauts" vermittelt wird.

"World Wide We" ist ein Konzeptalbum, das den Zustand der Welt aus Sicht der unterprivilegierten Bevölkerung im Sinne eines gesamtgesellschaftlichen humanitären Ansatzes darstellt. Musikalisch verschmelzen afrikanische Einflüsse mit westlicher Pop-Musik zu einer universellen Darstellung, die "Randgebiete" wie Jazz, Art-Pop und Chanson mit einbezieht. Joy Frempong und Marcel Blatti interagieren dabei auf einer Ebene, die stilistische Einordnungen überflüssig macht. Denn durch ihre nachsichtige Haltung und den unverkrampften Umgang mit kulturellen Errungenschaften entsteht eine Selbstverständlichkeit, die für eine unangreifbar ehrliche Qualität bürgt. 

OY ist ein jiddischer Ausruf, der verwendet wird, wenn jemand verärgert, schockiert, enttäuscht oder besorgt ist. OY betätigen sich in diesem Sinne mit "World Wide We" als weltoffene Kulturbotschafter und musikalische Freigeister mit einer zukunftsweisenden Vision.

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