Oliver Hohlbrugger - Nothing's Changed, Everything Is New

Oliver Hohlbrugger konfrontiert uns mit einem scheinbaren Widerspruch: Nichts hat sich geändert, alles ist neu.

Die Aussage "nichts hat sich geändert, alles ist neu" kann man unter anderem auf den Zustand der Welt beziehen: Die Naturgesetze funktionieren immer gleich, aber trotzdem ist alles ständig im Wandel. So löst sich der Widerspruch auf, den der norwegische Musiker Oliver Hohlbrugger mit dem Titel seines zweiten Albums (nach "The Choirboy" aus 2016) provoziert.
Credit: Haavar Goa

Oliver Hohlbrugger schöpft ergänzende Impulse für seine Arbeit nicht nur aus dem Rock ’n’ Roll, sondern auch aus der Melancholie. Er komplettiert mit diesen Eingebungen ein von dunklen Strömungen durchzogenes Genre. Das gelingt, weil Erinnerungen an seine Idole und musikalische Vorlieben anscheinend in seine DNA übergegangen sind. Ihm zur Seite standen für diese Transformation exzellente Pop-, Rock- und Jazz-Musiker, die die Aufnahmen sowohl in Norwegen als auch in New York einspielten. Das ist ein kultureller Kontrast, der sich auch in den introvertierten und extrovertierten Arrangements widerspiegelt.

Nicht erschrecken, wenn "Neon Dreams" mit kakofonischen Saxofon-Schreien und entfesseltem Schlagzeug das Tor zur Hölle aufstößt. Diese ungebremste, ekstatische Wucht entlädt sich nur kurz und mündet in deftig geschmetterte Blechblas-Fanfaren, die an die Rhythm & Blues-Inkarnation der australischen Punks The Saints erinnern. Hohlbrugger nutzt den aufgewühlten Zustand, um sich gesanglich als Mr. Cool in Szene zu setzen und als Bändiger der Apokalypse zu betätigen. Ungeachtet dessen und obwohl an seiner Seite gewandte Soul-Ladys reizvoll-vielversprechend agieren, tobt die instrumentale Begleitung im Hintergrund ungestüm weiter.

Ein anschmiegsamer, aber unnachgiebiger Groove und stoisch klickende und klopfende Rock-Noir-Rhythmen bestimmen danach das Aroma von "Bright Lights". Gemischtgeschlechtliche Duette versüßen zwischendurch auf charmante Weise die Atmosphäre.
Die Stimmlage von Mr. Hohlbrugger erzeugt auf "Bright Lights" dagegen wie selbstverständlich eine weltmännisch-galante Ausstrahlung, die in Nuancen an David Bowie oder Bill Callahan erinnert. Eine flexible Brass-Section umschließt die entstandenen Noten - wenn nötig - elegant mit Samt, sie kann aber auch herausfordernd auftrumpfen. Olivers E-Gitarre setzt ein, wenn der Gesang Pause hat, übernimmt dann dessen Entschlossenheit und bringt diese Stimmung als instrumentales Echo selbstbewusst zurück in das Lied.

"Black Canvas" überträgt sowohl kühle Erotik durch die Stimme von Anne Lise Frøkedal als auch den morbiden Hohlbrugger-Bariton-Gesang, dessen Schwingungen vom Leben gegerbt sind und Narben von Schuld und Sühne in sich trägt. Der Track hinterlässt auch dadurch eine ähnliche Ergriffenheit wie "Where The Wild Roses Grow" von Nick Cave & Kylie Minogue. Eine weich schwingende meditative Umgebung begleitet das hochsensible Stück 
zum Ausklang entspannt in die Unendlichkeit.

"Eclipser" bewegt sich in Fortführung des Eindrucks von "Black Canvas" beinahe schwerelos auf einem Schwall von Schwebetönen fort und man wird nur durch ein engagiertes Gitarrensolo aus den lauschigen Träumereien herausgerissen. Aufputschender Psychedelic-Rock trifft sozusagen brutal auf gedankenverlorenen Ambient-Sound.

Das Eingangs-Bass-Riff von "Nothing’s Changed, Everything Is New" lässt unweigerlich an "Money" von Pink Floyd denken. Der aufgeräumte, weise klingende Gesang kann mit der Tonfärbung von Scott Walker oder David Ackles verglichen werden. Die Ballade vermittelt aufgrund der Darstellung eines in sich ruhenden Pols einen künstlerisch ausgereiften Aspekt.

In "Velveteen" geht es um Weltschmerz und Reinkarnation. Der Titel des Songs lässt es erahnen: Hier standen The Velvet Underground soundtechnisch Pate, insbesondere der Song "Waiting For The Man". Durch einen energischen Glam-Rock-Einschlag bekommt der Track noch zusätzliches Kraftpotential an die Seite gestellt.

Seriöse Melancholie im Stil der Tindersticks gibt es bei "Into The Night" zu hören. Die Orgel verströmt warmherzige Töne, Streichinstrumente produzieren behagliche Ruhe, lautmalerischer weiblicher Gesang entführt in extravagante Gefilde und Hohlbrugger profiliert sich als kultivierter Erzähler.

Die abschließende, 12-minütige, instrumentale, imaginäre Space-Sound-Sinfonie "From Space, This Place Looks Blue" ist quasi die akustische Inkarnation des Album-Titels "Nothing's Changed, Everything Is New", also eine Entsprechung dessen, was am Anfang dieser Rezension in diese Formulierung hinein interpretiert wurde. Anfangs gibt es ungestört ablaufende, Harmonie suggerierende Abläufe, die dann durch schräge, aggressive Zwischentöne zunächst gestört, später ganz aufgelöst werden. Langsam tritt danach wieder eine scheinbar stabile Ordnung friedvoller Klänge ein, mit denen das Stück auch endet. Ein Hoffnungsschimmer dafür, dass letztlich doch alles gut werden kann.

Oliver Hohlbrugger hält eine Beschreibung für seine Motivationen bereit, die dem Werk übergeordnete Ideen zuordnet und es in die Nähe eines Konzeptalbums befördert: "Ich habe nicht mit einem bestimmten Konzept im Kopf geschrieben. Aber nachdem das Album fertig war, sah ich, dass es ein übergreifendes Thema gab. Ich hatte, wie so viele andere zu dieser Zeit, eine gewisse Existenzangst. Bei einem 24/7-Nachrichtenzyklus von Trauer, Politik, Krieg und Pandemien kann man nicht anders, als sich etwas verwirrt, hoffnungslos und verloren zu fühlen. Ich denke, die Texte, die ich geschrieben habe, spiegeln meine damalige Gemütsverfassung wider."

Und dem Online-Dienst "Backseat Mafia" hat der Norweger außerdem verraten: "Für mich geht es in dem Album um die Suche nach etwas Realem in einer Welt, die zunehmend gefühllos und gleichgültig wirkt. Um einen Ort jenseits von Eskapismus, Zynismus und den Illusionen des modernen Lebens. Das Album wird oft durch die Linse eines Menschen gesehen, der flieht und vergeblich nach allem und nichts sucht, wobei der Fokus des Albums auf dem Moment liegt, in dem ihm klar wird, dass er in die falsche Richtung geht (bildlich gesprochen). Es geht auch um die Apathie und den Schmerz, den man sich selbst zufügt, wenn man diese Erkenntnisse ignoriert, denn das Herz und die Seele wissen immer, wenn sie in die Irre geführt wurden, und sie können nicht anders, als sich nach Wahrheit und Liebe zu sehnen".

Manchmal muss man sich ernsthaft mit Musik auseinandersetzen, um den maximalen Spaß aus ihr schöpfen zu können. "Nothing's Changed, Everything Is New" ist solch ein Fall. Die Platte erweist sich nämlich als Gesamtkunstwerk, bei dem die Songauswahl, die Referenzen, die Arrangements und der den jeweiligen Stimmungen haargenau angepasste Gesang ein stimmiges Bild abgeben. Das zweite Werk des erfahrenen Singer-Songwriters beinhaltet alles, was nachhaltig begeisternde Klänge ausmacht: Einfühlungsvermögen, Energie und Einfallsreichtum.

Hinzu kommt die stimmige optische Komponente: Das qualitativ wertig gepresste Doppel-Vinyl ist in einem Klappcover untergebracht, das alle Text- und Besetzungsinformationen enthält. Die künstlerische Gestaltung lässt bewusst Fragen offen, besonders im Hinblick auf die Mimik und Gestik von Oliver Hohlbrugger auf dem Front-Foto. Es gibt also jede Menge zu ergründen und zu hinterfragen, was diese Veröffentlichung noch interessanter werden lässt. Für anregende Unterhaltung ist also bestens gesorgt!

Die kompositorische Vorgehensweise des Künstlers bestätigt die Thesen von der wellenartig wiederkehrenden Nutzung von Einflüssen, Referenzen und Retrospektiven in der Popmusik, die im Buch POP STEHT KOPF beispielhaft dargelegt wird. Die Song-Gestaltung steht für eine lebhafte Auseinandersetzung mit der Pop-Kultur, die eine kreative Neudeutung der sich ergebenden Eindrücke in die Gegenwart fördert und überhaupt erst ermöglicht.

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