Jahresbestenliste 2020

Die Veröffentlichung von überragender Musik konnte im Jahr 2020 selbst vom Corona-Virus nicht verhindert werden. Verlässliche Größen und unkonventionelle Außenseiter bilden somit die Liste meiner Favoriten, die natürlich nur einen subjektiven Bruchteil der tatsächlich erschienenen Perlen abdeckt. Beschaulich, getragen und überwiegend harmonisch-melancholisch ist die Auswahl dieses Jahr ausgefallen, die lauten Töne sind nicht angemessen vertreten. Es war eine Zeit der Einkehr, bei der erbaulich-mitfühlende Klänge im Vordergrund standen, denn in der Ruhe liegt die Kraft.

Zur Ergänzung empfehle ich die "Jahres Top Ten"- Zusammenstellung von Günter RamsauerJahres Top Ten .

Platten des Jahres

01. Nick Cave - Idiot Prayer

Nick Cave ganz alleine am Konzertflügel. Das bedeutet, dass Bitterkeit und Süße, Strenge und Romantik intensiv und fordernd für Sinnlichkeit, Wut und Verbundenheit sorgen. "Idiot Prayer" ist ein hochemotionales Erlebnis, das je nach Tagesform stimulierend oder tröstend empfunden werden kann.

02. Gregory Porter - All Rise


Diese warme, schmeichelnde, mächtige Stimme! Der Mann könnte Koch- oder Telefonbücher singen, es klänge würde- und weihevoll. Tut er aber nicht, sondern er breitet mit "All Rise" ein Potpourri voll von vollmundig-reifen Songs aus, die kein Etikett verdient haben. Zwar bewegen sich die Lieder traumwandlerisch sicher zwischen den Stilen Jazz, Pop, Soul und Blues, besitzen aber ihre spezielle Dynamik. Sozusagen einen magischen Flow, der sie zu aufbauenden und anregenden Geschöpfen in den kompetenten, leitenden Händen von Gregory Porter macht.

Zart schmelzend begleitet Johannes Mayer - der sich The Late Call nennt - seine Eigenkompositionen mit dem Piano und lässt diese Intimität noch von wenigen Gästen veredeln. "Your Best Friend Is The Night" bietet unverzichtbare Kost für konstruktive Melancholiker, Nachtschwärmer und hoffnungslose Romantiker. Also für Menschen mit ganz großem Herz.

04. David Keenan - A Beginner's Guide To Bravery

David Keenan ist für mich definitiv der Newcomer des Jahres. Unangepasst, knorrig und engagiert sucht er sein Heil in spannenden, kraftvollen, vor Lust und Laune überschäumenden Songs. Und dabei kommt ihm seine begeisternd-verzückte Ausdrucksfähigkeit entgegen, die den Stücken eine besondere, individuell herausstechende Attraktivität verleihen.

05. Tim Bowness & Peter Chilvers - Modern Ruins

Mehr noch als beinahe jedes andere Jahr ist 2020 besonders dafür geeignet, den leisen, tröstenden, anheimelnden Tönen einen Raum zu bieten. Klänge, die introvertiert sind, aber trotzdem hoffnungsvoll wirken, sorgen bei "Modern Ruins" für eine angenehme Atmosphäre der Nähe und der Menschlichkeit. Kein Wunder, denn wenn solche Könner wie der hauchzart singende Tim Bowness (der nicht nur seit 1982 unter eigenem Namen großartige Art-Pop-Alben produziert, sondern auch zusammen mit Steven Wilson das Duo No-Man bildet) und der Sound- und Software-Designer Peter Chilvers am Werke sind, dann wird ein intim-liebevoll angelegtes Sound-Projekt nicht nur hörenswert, sondern großartig. Quasi zeitgleich hat Tim Bowness in 2020 noch ein weiteres Werk mit dem Titel "Late Night Laments" nachgeschoben, welches nicht weniger gelungen ist.

06. Matt Berninger - Serpentine Prison

Macht ein Solo-Album neben den Aktivitäten von The National überhaupt Sinn? Wo steckt da der Mehrwert? Ja, es macht Sinn und der Mehrwert steckt in aufgeräumten, rundum schönen, teils herzzerreißenden, gediegenen Liedern, die die Produktion von Booker T. Jones gebraucht haben, um entsprechend seelenvoll und geerdet erklingen zu können. Gut für uns, dass Matt Berninger "Serpentine Prison" ins Leben gerufen hat, denn sonst wären uns außergewöhnliche Perlen verborgen geblieben.

07. Norah Jones - Pick Me Up Off The Floor

Jedes Mal, wenn Norah Jones ein neues Album herausbringt, behaupte ich, dies sei ihr bestes Werk. So auch jetzt. Das spricht doch für eine stetige, sich auf hohem Niveau befindliche Qualität der Musik, die von der umtriebigen Pop-Jazz-Pianistin und Sängerin anziehend, geschmackvoll, variabel und versiert umgesetzt wird.

08. Ben Watt - Storm Damage


"Storm Damage" ist in meiner Wahrnehmung nur allmählich gewachsen. Anfangs fand ich das Album sogar unspektakulär, beinahe überflüssig. Aber die Songs hatten sich trotzdem schon in den Tiefen der Gehörgänge festgesetzt und hinterließen dort deutliche Spuren, die langsam ans Tageslicht drangen. Und plötzlich war sie da, die Begeisterung für die zurückhaltenden, demütigen, meditativen, eindringlich-hypnotischen Songs, die auf so wundersame Weise nach langem Vorlauf zu überzeugen wussten. Qualität setzt sich eben durch - irgendwann, aber bestimmt.

09. A Girl Called Eddy - Been Around


Die Welt braucht mehr anspruchsvoll-kunstvolle Pop-Musik! Und Erin Moran alias A Girl Called Eddy liefert sie uns mit "Been Around" in verlässlicher, zeitloser und exquisiten Qualität. In cool-mondäner Art und Weise präsentiert die Sängerin eine längst vergessen geglaubte Sound-Ästhetik, die sehr geschmackvoll Erinnerungen an Burt Bacharach, Prefab Sprout, Steely Dan und Paul Williams aufkommen lässt. 

10. Bob Dylan - Rough And Rowdy Ways


Ein Meisterwerk von Bob Dylan nur auf Platz 10? Das ist keine Geringschätzung, sondern zeigt nur, wie dicht die Beurteilungen zusammen liegen. Je nach Gefühlslage könnte diese Platte auch die Spitzenposition einnehmen - wie jede andere Veröffentlichung dieser Auflistung auch. Denn natürlich ist das Werk unverzichtbar und natürlich ist Bob Dylan ein Meister seines Faches.


Songs des Jahres

01. Jason Isbell And The 400 Unit - Only Children

Das Lied rührt zu Tränen. Jason Isbell spielt Gospel-Musik ohne religiösen Hintergrund, der als Folk-Rock getarnt ist. Er zieht alle Register, um den Hörer aus seiner Realität in eine Parallelwelt zu entführen. Mit Erfolg. Diesen sehnsuchtsvollen Klängen kann man sich kaum entziehen.

02. The Late Call - Viktoriapark, Berlin

Das Highlight von einer Platte voller Highlights. So sanft, so Mut spendend, so schön.


03. Gregory Porter - Concorde

Es ist immer wieder erstaunlich, dass Musik so prägend sein kann, dass sie alles um einen herum vergessen machen kann. "Concorde" ist so ein glücklich machendes, Kraft spendendes Lied, das Licht in die Welt sendet.

04. Taylor Swift feat. Bon Iver - Exile

Bon Iver und Taylor Swift: Die perfekte Paarung, um Zuversicht und Verletzlichkeit miteinander zu koppeln. "Exile" stellt sich wie eine spirituelle Messe mit reinigender Wirkung dar.


05. Young Gun Silver Fox - Kids

Ohne Optimismus geht es nicht. Der Bubblegum-Soft-Rock von "Kids" ist ein unwiderstehlicher Ohrwurm, den die Doobie Brothers, Steely Dan oder Fleetwood Mac sicher auch gerne geschrieben hätten.



Wiederveröffentlichungen des Jahres

01. Brian Protheroe - The Albums 1974-76


Da habe ich lange drauf gewartet! Nachdem "Brian`s Big Box" - eine andere Sammlung der Arbeit von Brian Protheroe - schon lange vergriffen ist, wurde es Zeit, diesen Außenseiter des smarten Art-Pop neu aufzulegen.

02. Richard & Linda Thompson - Hard Luck Stories (1972 - 1982)


Die Platten von Richard & Linda Thompson sind sowas wie der Heilige Gral des Folkrock aus Großbritannien. Klar, es gibt auch andere unsterbliche Genies dieses Genres, die mehr in Richtung Jazz tendierten, wie John Martyn oder Pentangle. Aber die Thompsons haben es auf besondere Weise verstanden, psychedelische Mystik und die Intimität der Folklore miteinander zu verbinden. Die edel aufgemachte, limitierte Box enthält 8 CDs mit den sechs Studioalben, die technisch überarbeitet wurden. Außerdem gibt es 31 bisher unveröffentlichte Stücke und zwei Konzerte aus 1975 und 1977 zu hören. Essentiell!

03. Neil Young - Homegrown


Wiederveröffentlichung? "Homegrown" hat es doch bisher noch gar nicht gegeben! Das ist richtig, denn es handelt sich um ein "verlorenes" Album von Neil Young, von dem aber schon einige Songs in anderer Konstellation veröffentlicht wurden (z.B. "Love Is A Rose", "Little Wing" und "Star Of Bethlehem") und nur fünf Stücke unbekannt sind. Die Aufnahmen wurden ursprünglich von Ende 1974 bis Anfang 1975 eingespielt. Da die Lieder für Young aber damals zu persönlich waren, weil er darin die Trennung von seiner Lebensgefährtin Carrie Snodgress verarbeitete, zog er sie wieder zurück und brachte stattdessen 1975 "Tonight`s The Night" raus.



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