Begonia - Powder Blue

Begonia nutzt Dramatik, Herzschmerz und Melodieverliebtheit als wesentliche Fundamente für ihre Pop-Songs.
Alexa Dirks aus Kanada hat sich den Künstlernamen Begonia zugelegt und trat erstmalig 2017 mit ihrer EP "Lady In Mind" in Erscheinung. Gefolgt von dem Debut-Werk "Fear" in 2019 und dem Live-Album "The Fear Tour" aus 2021. Am 17. März 2023 meldet sie sich mit 12 neuen Studio-Aufnahmen unter dem Titel "Powder Blue" zurück, die teilweise aus einer Zeit stammen, als sich Alexa so schlecht gefühlt hatte, wie nie zuvor in ihrem Leben. Was man den Songs allerdings nicht unbedingt anmerkt.
Credit: Calvin Lee Joseph

Hört man die Worte von Begonia, die sie für "Chasing Every Sunrise" ersonnen hat, dann werden unwillkürlich die Sonnenaufgänge lebendig, die man selbst erlebt hat. Und man erinnert sich, wie erhaben und glücklich man sich dabei gefühlt hat. "Chasing Every Sunrise" ist nicht nur eine Liebeserklärung an eine Person, sondern auch an das Glück des Augenblicks, das für immer mit Geräuschen, Bildern und Erlebnissen verbunden ist: "Ich mag es, den langen Weg nach Hause in Stille zu gehen. Zu hören, wie die toten Blätter über den Highway rollen. Klickend wie High Heels auf dem Betonboden. Eine Art von Erinnerung ist in diesem Geräusch gefangen", lautet die präzise Beschreibung einer Verknüpfung von Erlebnissen mit Tönen in diesem Lied. 

Alexa nähert sich den Hörern behutsam, eröffnet das Lied zunächst mit A cappella-Gesang und lässt dann ruhig-weiche, cremige Geigen erklingen, bevor diese lebhafter agieren und Chorstimmen obendrein parallel den mild-sakralen Eindruck wieder aufleben lassen. Im nächsten Abschnitt wird das bislang einzige Rhythmus-"Instrument", das Finger-Schnipsen, durch prägnantere synthetisch klingende Takte ersetzt. Der Song bleibt aber im Balladen-Modus verhaftet und endet nach etwas über dreieinhalb Minuten abrupt.

Die Schatten der Vergangenheit loszuwerden, ist das dringende Anliegen bei "Heaven"? Wird dies zu Lebzeiten gelingen oder gibt es die absolute Freiheit erst im "Himmel"? Oder geht es hier vielleicht sogar um die Frage, ob es überhaupt einen "Himmel" im Sinne der christlichen Lehre gibt? Welche Fragestellung bekommt die Deutungshoheit bei dieser Poesie? Eine scheinbar rotierende Synthesizer-Ton-Schleife täuscht jedenfalls einen Wirbel vor, der alsbald vom Furcht erfüllten Gesang und einem cool groovenden Rhythmus überlagert wird. Auslegungssache ist auch das Empfinden beim fiependen Keyboard-Solo: Sorgt es für eine distanzierte Sicht oder symbolisiert es ein unbekümmertes Pfeifen? So klingt eben mehrdeutiger Electro-Pop für Leib und Seele.
"Married By Elvis" vereinigt die sanfte Melancholie des Bossa Nova mit der romantischen Süße des Easy Listening. Textlich wird eine kitschige Vorstellung, nämlich von Elvis in Las Vegas verheiratet zu werden, als Symbol für eine ganz besondere Liebe ausgedrückt. "Ich glaube nicht wirklich an die Ehe und ich bin nicht einmal ein Elvis-Fan, aber ich glaube, dass Liebe einen dazu bringen kann, seltsame Dinge zu tun, und genau darum geht es in diesem Song", ergänzt Alexa Dirks ihre Gedanken bei der Ideenfindung.
"Right Here" lässt sich auch durch die leiernden Anfangstöne nicht aus dem Konzept bringen und findet selbstbewusst seinen Weg als starker, kraftvoller Pop-Song mit Rhythm & Blues-Wurzeln.
Auch für "I’m Not Dying" werden Effekte bemüht, die das Lied taumelnd erscheinen lassen. Ganz im Gegensatz zum flexiblen Gesang, der frisch und munter die Spur hält und dabei zuverlässig anschmiegsame, altbewährte Pop- und Soul-Sequenzen nutzt. Amy Winehouse lässt von oben grüßen.
 
"Marigold" hat die gute Laune quasi gepachtet. Der Song hüpft und sprudelt beweglich und weist eine optimistisch geprägte gesangliche Ausstrahlung auf. Er ist keine 2 Minuten lang und plötzlich zu Ende, grade als man sich auf diesen Kurzurlaub der Sinne eingelassen hat, der sich mit der Suche nach der eigenen Sexualität beschäftigt.

Das Einfangen von erlebten Situationen und Emotionen ist eines der vorherrschenden Themen auf "Powder Blue" und prägt einige Texte genauso wie die Stimmung der Lieder. Das gilt auch für "Butterfly", das Erinnerungen an einen Schwimmbadbesuch einschließlich eines dabei abgebrochenen Zahns wachruft. Als romantische Piano-Ballade mit phasenweise opulentem, barockem Charakter versprüht das Lied wehmütige Gefühle.

Zunächst spärlich ausgestattet und mit monoton-hypnotischen Minimal-Art Effekten versehen, reift "Cold Night" nach und nach zu einem mit dramatischen Tönen aufgefüllten Art-Pop-Track. Das Stück betrachtet dabei die Phasen einer Trennung: "Die erste Strophe beschreibt, wie man noch nicht bereit ist loszulassen. Allein der Gedanke daran, zurückgelassen zu werden, lässt einen verzweifeln.... Strophe zwei reflektiert über die Realität der Beziehung selbst und bestimmte Geschichten, die erst mit der Zeit die Wahrheit ans Licht bringen. Im letzten Teil des Liedes, nachdem die Streicher einsetzen, geht es darum, die Situation so zu akzeptieren, wie sie ist und weiterzumachen", erläutert Begonia ihre Sichtweise zu dem Thema.
Eckige TripHop Rhythmen und inniger Solo- und Gospel-Chor-Gesang bilden die wichtigsten Zutaten für "Crying", das die Parole ausgibt, dass das Ende einer Liebe nicht das Ende des Lebens bedeutet. Und wieder einmal wird die Vorliebe von Begonia für unerwartete, jähe Song-Abbrüche präsentiert.

"Bleeding Heart" und "The Only One" wagen sich am weitesten von allen Liedern auf "Powder Blue" in den modernen Dance-Pop vor. Die Stücke sind hübsch anzuhören, besitzen einen einprägsamen Refrain, kommen aber ohne die Bodenständigkeit vieler anderer Kompositionen aus, was sie ein wenig wie Außenseiter im vorherrschenden Retro-Sound klingen lässt.

"The Only One" beschäftigt sich damit, dass man sich mitunter auf einer Party so fühlen kann, als sei man die einzige Person, die keinen Spaß hat. Dann ist man enttäuscht und es können Selbstzweifel entstehen, aber wahrscheinlich ist man nur zur falschen Zeit am falschen Ort.
"NYE2013" (= New Years Eve 2013) stützt sich auf Erinnerungen an eine unvergessliche Party und verwendet asiatisch anmutende Töne sowie stimmlich verfremdete Vocoder-Effekte, um diesem erzählerisch starkem Pop-Chanson Würze zu verleihen.

Begonia wirkt manchmal wie aus der Zeit gefallen, wie eine Schwester von Shirley Bassey oder Dusty Springfield. Oder eine Gleichgesinnte von A Girl Called Eddy oder Teresa Bergman. Klassischer, reifer 60s-Soul-Pop mit Tiefgang, Herz und Verstand ist ihr Ding, wobei die Instrumentierung durchaus neumodisch sein kann. Alexa Dirks erzeugt empathischen und belebenden Pop mit großen, überschwänglichen Gefühlen und Themen, in denen sie die Vergangenheit verarbeitet (Selbstreflexion) und die Gegenwart gestaltet (Verhaltensanpassung). Sie besticht innerhalb der cleveren Arrangements obendrein durch eine beachtlich voluminöse und souverän-saubere Gesangsleistung, die anpassungsfähig und mitreißend ist. 

"Powder Blue" ist anders als die Begonie eine seltene Pflanze, die unter den bewährten Produktions- und Kompositionshänden von Alexa Dirks, Matt Peters und Matthew Schellenberg zu einem prächtigen, üppig sprießenden Melodie-Reigen herangewachsen ist, der zeitlos schöne Lieder hervorgebracht hat. Die Kompositionen vermitteln zwischen musikalischem Vermächtnis und Zeitgeist, sie sind radiotauglich und gleichzeitig niveauvoll. Das sind bekömmliche und verlockende Kombinationen. 

Das letzte Wort zur Konzeption des Werkes hat die Künstlerin selbst: "Für mich enthält dieses Album eine gedämpfte Nostalgie, Gedanken über die Kindheit, die Komplexität einer neuen Liebe, Selbstliebe, Religion, Jungfräulichkeit und Sexualität. Es ist ein Schwelgen in emotionaler Tiefe und Schmerz, aber auch ein Schwelgen in Liebe und einer poppigen Leichtigkeit - zwei Seiten, die ich immer versucht habe, auszubalancieren."

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Waiting For Louise - Rain Meditation

Jahresbestenliste 2023

Lesestoff: Pop steht Kopf