Anna B Savage - in|FLUX

Veränderte Lebensumstände, gleiche Intensität: Anna B Savage bewahrt sich für "in|FLUX" ihre Sensibilität zur Schaffung anspruchsvoller Pop-Songs.

"A Common Turn" von Anna B Savage war eines der spannendsten Art-Pop-Alben des Jahres 2021. Die zweite ausführliche Vorstellung der Künstlerin aus London folgt nun am 17. Februar 2023 und trägt den Titel "in|FLUX" - was so viel wie "in Bewegung sein" oder "sich entwickeln" bedeutet. Es geht also um das Gegenteil von Stillstand im Zusammenhang mit persönlichem oder kreativem Fortschritt. 
Credit: Katie Silvester

Als Anna im Studio zu den Aufnahmen erschien, 
war keiner der Songs fertig. Die Entstehung befand sich in einem fließenden Zustand und war der Interaktion mit dem Produzenten Mike Lindsay (Tuung, Lump) unterworfen. 
Wurde "A Common Turn" noch deutlich durch die Nachwirkungen einer toxischen Beziehung geprägt, so profitiert "in|FLUX" von einem inzwischen gewachsenen Selbstbewusstsein und der Auffassung, dass "Ungereimtheiten und Heucheleien Teil der menschlichen Natur sind." Wir haben es also mit Musik zu tun, die aus einer "neu gefundenen Einstellung zum Leben, zur Kreativität und zum Songwriting...[also] einer Erkenntnis, dass alles gut werden wird", entstanden ist.
 

Annas Lebensart ist achtsamer geworden, der Gesang der Vögel kann wieder ohne störende Gedanken-Kreisel wahrgenommen werden, wie im Song "I Can Hear The Birds Now" verkündet wird. Trotzdem ist dadurch kein unschuldiges Sunshine-Pop-Lied entstanden, sondern ein Moll-lastiger Folk-Jazz mit traurig wallender Klarinette, einer ängstlichen Stimme und einer unerschütterlich und zuverlässig begleitenden akustischen Gitarre. Der neu erlangten, vorsichtig-optimistischen Gemütslage wird anscheinend noch nicht ausreichend Stabilität zugetraut. Wohl wissend, dass die Geister der Vergangenheit der Psyche jederzeit wieder heftig zusetzen könnten.

"Hör auf mich zu verfolgen, bitte lass mich einfach in Ruhe, bitte", lautet das Flehen in "The Ghost". Mögen die Gedanken an die Tyrannei des ex-Partners endlich nicht mehr quälend sein. Mit dumpfen, aufgewühlten künstlichen Herzschlag-Tönen, die bis zum Hals zu schlagen scheinen, wird das Stück eingeleitet. Diese Klänge gehen in Stakkato-Trommel-Schläge über und treiben das mit dramatischer Inbrunst gesungene und wellenartig anschwellende Lied tatkräftig an.
Die hypnotische Komponente des Tracks wird übrigens in einer Überarbeitung von W.H. Lung noch deutlicher herausgestellt.

Der russische Physiologe Iwan Petrowitsch Pawlov beschäftigte sich um 1900 herum mit der Wirkung der klassischen Konditionierung. Er setzte seinen Hunden Futter vor und ließ dazu eine Glocke läuten. Die Hunde verbanden bald das Füttern mit dem Klang der Glocke, so dass die Glockentöne alleine schon den Speichelfluss in Erwartung einer Mahlzeit in Gang setzten. Pawlov bewies damit, dass sich Verhaltensweisen mit Ereignissen verknüpfen lassen, was auch für Menschen gilt. Im Song "Pavlov‘s Dog" geht es um das erfüllende Ausleben von Sexualität (das unter Umständen 
auch auf eingefahrene Verhaltens- und Erwartungs-Muster aufgebaut sein kann), was in diesem Fall jedoch nicht als Basis für eine längerfristige Beziehung ausreicht. Die erregte Rhythmik und ein erhitztes Hecheln bilden unter anderem die akustische Untermalung zur Abbildung einer erotischen Situation, die voller Verlangen und Wünsche steckt. "Touch Me" verarbeitet das gleiche Thema musikalisch abgeklärter und ungezwungener, in einem delikat-flüssigen Dark-Folk-Rahmen.
"Du kommst in meinen Träumen vor. Im Moment furchtbar oft. Es bedeutet, dass dieser Tanz für uns vorbei ist", lautet die nüchterne Bilanzierung eines Verhältnisses in "Crown Shyness". Ein unbarmherziger Maschinen-Beat unterstreicht durch seine druckvolle Konsequenz den belastenden Zustand des Zerwürfnisses. Die nebenher ablaufende Piano-Ballade baut parallel Wehmut auf, ein Raubtier-Knurren symbolisiert aufsteigende Wut - der ganze Gefühls-Cocktail einer zerbrochenen Beziehung findet akustisch Berücksichtigung und fügt sich anschaulich zu einer schonungslos offenen Partnerschafts-Studie zusammen. In dem Song geht es darum, "Zwei widersprüchliche Dinge gleichzeitig zu fühlen: Ein Ziehen hin und ein Wegstoßen von. Für mich fühlt sich der Song aber nicht explizit traurig an. Für mich fühlt es sich wie ein Bekenntnis zu Zärtlichkeit und Verbindung an, aber es zeigt auch Wege auf, bei denen das nicht möglich ist", sagt Anna.
Die pure Angst steht "Say My Name" durch den gebrochenen, erschütterten Gesang bei dieser unheimlichen Beziehungs-Geschichte ins Gesicht geschrieben (""Lass mich raus", versuchte ich zu schreien. Bitte bitte bitte."). Dabei fängt das Lied als gelassen-unschuldiger Country-Folk an, wird aber allmählich zu einem sich wüst benehmendem Jazz-Rock-Monster umgewandelt.

Ist es Zweckoptimismus oder gelebte Überzeugung, wenn Anna im Song "in|Flux" behauptet: "Ich will allein sein, ich bin allein glücklich." Eigentlich möchte sie aber zunächst einmal das unglückliche Verhältnis beenden, um den Druck loszuwerden. Durch ein behutsam angeblasenes Saxophon wird ein Schwebezustand 
inmitten von bedächtigem Gesang erzeugt, was emotional auch als Verletzlichkeit oder Ratlosigkeit gedeutet werden kann. Nach etwa einer Minute stoppt diese Overtüre und halluzinogene, wie auch dumpf rumpelnde Synthesizer-Töne übernehmen das Ruder. Die Stimmung wird hektischer und der bisher kontrolliert ablaufende Gesang bekommt sogar hysterische Eigenarten verpasst.
In "Hungry" gibt es dann eine textliche Bestätigung für die Erlangung von mehr Kontrolle im Leben ("Ich dachte, ich würde mich einsam fühlen, aber es ist nicht wahr"). Der dazu entwickelte, lässig-entspannte Country-Folk unterstützt diese befreite, vertrauensvolle Sicht der Dinge auf luftig-elegante Weise.

Aufkommende Zweifel an einer Beziehung beschreibt "Feet Of Clay". Gemischte Gefühle machen sich breit und bringen das Liebes-Gefüge zum Wanken. Die wechselhafte, unstimmige Lage wird akustisch angemessen und nachvollziehbar abgebildet: Der Synthesizer kann sich nicht entscheiden, ob er optimistisch abgestimmte oder unsicher springende Töne favorisieren soll, der Gesang und das Saxophon beschwichtigen, die Keyboards wiegeln auf. Kontroversen sind das Salz in der Suppe dieses Liedes.

"The Orange" lässt die Grenzen zwischen edlem Hippie-Folk und spirituellem Trance-Jazz verschwimmen. Das Lied besteht also aus Sequenzen, die den Geist berauschen und Komponenten, die ihn aufgrund der filigranen Komposition wohlig erschaudern lassen. Das Stück endet mit den Worten: "Ich denke, es wird mir gut gehen." Das ist ein hoffnungsvolles Zitat als Schlusspunkt unter einem Album, das als Manifest für eine positive persönliche Entwicklung unter schwierigen Bedingungen verstanden werden kann.

Die Zeit zwischen "A Common Turn" und "in|FLUX" war für Anna B Savage von Psychotherapien und Selbsthilfe-Erfahrungen geprägt, was zur emotionalen Erholung beitrug und damit das Selbstwertgefühl stärkte. Dadurch konnte "in|FLUX" wahrscheinlich solch ein anspruchsvolles, kraftvolles Werk werden. Ungeachtet eines zum großen Teil düsteren Sounds, Problem-basierter Texte und raffinierter Wendungen reifte eine eigenwillige Kost heran, die appetitlich und stimulierend zugleich mundet. Anna B Savage bleibt trotz aller neuen privaten Einflüsse ihrer individuellen musikalischen Linie treu, lässt sich nicht verbiegen und strebt nach kreativer Selbstständigkeit. Diesen Zustand hat sie mit "in|FLUX" allerdings schon jetzt eindrucksvoll untermauert.

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