Ensign Broderick - Come Down + Mirror Ring (2025)

Ensign Broderick umhüllt in Watte gepackte Dramen mit kühner Introvertiertheit.


Cover-Art-Work von "Come Down"

Cover-Art-Work von "Mirror Ring"

Ensign Broderick ist der Künstlername von Jason Sniderman, einem kanadischen Musiker mit Allrounder-Qualitäten: 1983 trat er als Keyboarder der New Wave-Band Blue Peter bei, die sich 1985 auflöste. Ab 2008 war er Mitglied der Country-Rock-Formation NQ Arbuckle und außerdem arbeitete er als Session-Musiker zum Beispiel für Art Bergmann.

Nach jahrzehntelanger Pause kehrte Jason Sniderman erst mit 60 Jahren im Jahr 2018 als Ensign Broderick ins Rampenlicht zurück. In diesem Jahr brachte er gleich fünf Alben heraus. Vier davon sind aus den Tonband-Aufnahmen gespeist, welche er in den 1970er Jahren begann und die bis in die 1980er Jahre hineinreichten. Musikalisch war er in dieser Zeit besonders von allem beeinflusst, was grob dem Glam-Rock zuzurechnen ist, hauptsächlich von David Bowie und Roxy Music / Bryan Ferry. 2025 kommt der mysteriöse Künstler nun als behutsam-zurückhaltender Unterhalter mit gleich zwei neuen LPs zurück.


Credit: Ivan Otis
 
Ist es nicht langweilig, zwei Platten, die hauptsächlich von Gesang und Piano geprägt sind, in einem Rutsch durchzuhören? Wenn es sich dabei um romantisch verklärte, süßlich aufdringliche, schmalzig-schnulzige Lieder handeln würde, ist das wahrscheinlich.

Nicht so bei Ensign Broderick. Zwar werden die Songs nur sporadisch von Hintergrundstimmen, wehenden Synthesizertönen, einem schroff geblasenen Fanfaren-Saxophon, einer gelegentlich klar und hell gezupften akustischen Gitarre und einer sehnsüchtigen Pedal-Steel-Gitarre unterstützt, der Gesang und das Klavier sind jedoch schon ohne Begleitung spannend und raumfüllend. Der Kanadier bewegt sich in einer Liga von Komponisten, bei denen selbst die melodisch angenehmen, zugänglichen Nummern noch ein dunkles Geheimnis zu verbergen scheinen.

Als Interpret kann Ensign Broderick eine lebenserfahrene, unverstellte, souverän-unbestechliche Ausstrahlung für sich verbuchen. Wenn sich jemand instrumental pur und künstlerisch entblößt zeigt, sich also total auf seine Talente verlassen muss, dann wird er unter Umständen angreifbar. Jedenfalls, wenn er nicht eine gehörige Portion Überzeugungskraft und Unverwechselbarkeit mitbringt. Diese künstlerische Größe und Klasse gilt zum Beispiel für Peter Hammill ("And Close As This", 2007), Nick Cave ("Idiot Prayer", 2020) oder John Cale, dessen "(I Keep A) Close Watch" (1982) Ensign aufrichtig und traurig interpretiert.
 
Broderick bringt eine Stimme mit, die schlagartig berührt und alle Gedanken auf sich zieht. Und das, obwohl sie ohne Vokalakrobatik und heftige Dynamiksprünge auskommt. Sie ist einfach erzählerisch stark. Die Kompositionen haben oft einen hohen melancholischen Anteil, ohne sich dabei in einem Jammertal zu verirren. Die Lieder sind dennoch emfindsam oder erschütternd, ohne dass zu dick aufgetragen wird. Die häufig introvertiert angelegten Melodien prägen sich ein, weil sie klug arrangiert wurden und neue oder verborgene Wege ins Gehirn suchen. Kurzum: die Musik erscheint zwar grundsätzlich vertraut, nutzt aber Verbindungen, die sie in einem interessant-unverbrauchten Licht erstrahlen lässt.
 
Alter Wein in neuen Schläuchen - ein Prädikat, das manchmal abwertend verwendet wird, hier jedoch ein Qualitätssiegel darstellt. "Alter Wein" heißt in diesem Fall reif und erfahren und die "neuen Schläuche" bedeuten, dass die angezapften Inspirationen und Einflüsse nicht ausgebeutet oder kopiert, sondern modelliert und umgedacht werden. Und deshalb tragen auch grundsätzlich ähnlich veranlagte Songs durch kleine, aber wirksame spezifische Besonderheiten und pfiffige Schlenker zum Gelingen der Werke bei. Zeitlose Wertbeständigkeit trifft auf kluge Weiterentwicklung.

"Inviolette" (aus "Come Down") lässt zugleich Tränen gefrieren und eine vielversprechende Zukunft am Horizont auftauchen. Der Track reißt das Herz in Stücke und setzt es dann liebevoll wieder zusammen. Das ist ergreifend und zum Heulen schön. Meisterlich!

"When We Were Pretty"
(aus "Come Down") ist eine Ode an die Jugend und deren Vorzüge ("Wir gehörten uns selbst und niemanden anders, als wir schön waren"). Aufbauend, feierlich und melodisch einladend schmeichelt sich der Song ein und startet dabei eine Sympathie-Offensive, ohne sich anzubiedern. Motivierend!

Bei "Lit From Within"
(aus "Come Down") badet die Stimme förmlich in einem Meer aus weisen Piano-Tönen und wird von ihnen bedrohlich umspült. Die aufblühenden Piano-Stakkati verzerren die Zeitwahrnehmung, ein Effekt, der häufig in der Minimal-Art-Musik genutzt wird. Der Gesang droht zu versinken, hält sich aber knapp oberhalb der Wasseroberfläche. Nicht der Sänger prägt den Song, sondern das Klavier herrscht über die Stimme, in diesem sich opulent zeigenden Track, der sich undogmatisch in Bereiche der seriösen Klassik vorwagt.

Bei "My Gracious Silence" (aus "Come Down") wird Leid leidenschaftlich zelebriert. Das Stück verwandelt Schwermut in bittere Süße, die den Geist mit zärtlicher Sinnlichkeit liebkost ("Mein gnädiges Schweigen liest meinen Schmerz von einer noch ungezähmten Gewalt"). Ehrfürchtige Schönheit!
 
"Love Dies" (aus "Come Down") zeigt Szenen von Gewalt in einer Beziehung auf und ist deshalb von unterdrückter Wut gekennzeichnet ("Sie zeigt auf ihr Herz, auf den blauen Fleck an ihrem Arm. Hier stirbt die Liebe"). Die musikalische Intensität sprengt die Fesseln, die die Liebe einst angelegt hat!

Beim flüchtigen Hören wirkt "All Dreams Are Bad" (aus "Come Down") mutlos. Neben den langsamen, in abgründigem Moll gestimmten Piano-Akkorden schichten sich neblige Synthesizer-Wände auf, die undurchdringlich erscheinen. Plötzlich dringen in Gestalt von glockenhellen Tönen Sonnenstrahlen durch und der Synthesizer bemüht sich, optimistisches, künstliches Pfeifen beizutragen - nur angedeutet, nicht durchdringend, aber das Licht am Ende des Tunnels symbolisierend. Und die Hoffnung hält sich eine Tür offen!


Auch "Archer" (aus "Come Down") schöpft Kraft aus dem Zurücknehmen von energischen Ausbrüchen, hält sich allerdings beharrlich in einem abgedunkelten Raum auf, in den bis zum Schluss kein Licht gelassen wird. Genesung durch Rückzug!

"Bravado" (aus "Mirror Ring") ist eine Cover-Version eines Songs der Band Rush (aus dem Album "Roll The Bones" von 1991). Aus dem ursprünglichen Mid-Tempo-Melody-Rock-Song gestaltet Ensign Broderick eine saftig klingende Ballade mit religiöser Inbrunst.

Für "Cathedral Cities"
(aus "Mirror Ring") wurde der Gesang mit Hall versehen, sodass der Eindruck entsteht, der Song käme tatsächlich aus einem großen Gewölbe zu uns. Einsam, verlassen, aber den Gegebenheiten trotzend ("Wir sind, was wir glauben")!

"Swept Away"
(aus "Mirror Ring") liegt emotional und hinsichtlich des ergreifenden Ausdrucks auf einer Wellenlänge mit "(I Keep A) Close Watch" - und das will was heißen!

Auf verschlungenen Pfaden setzt sich "And I You"
(aus "Mirror Ring") aus barocken Bestandteilen und kunstvollen Beatles-Harmonien, die in die DNA des Musikers übergegangen sind, zusammen. Beides wurde untrennbar miteinander verschweißt.

Das Saxophon schlägt Alarm, aber Ensign Broderick lässt sich gesanglich nicht von seinem Weg abbringen: "Sentient Lens" (aus "Mirror Ring") ist wahrscheinlich der muskulöseste Song auf dem LP-Doppelpack, bei dem Broderick seine Stimme im Verlauf immer mahnender erklingen lässt.

Die Geschichte von "Snow Day"
(aus "Mirror Ring") dreht sich um eine Trennung, die sehr weh getan hat. Dieses Gefühl wurde in Noten gepresst und führt zu Mitleid. Der Schmerz scheint sich beim Hören im Raum zu materialisieren und greifbar zu sein!

"Wanderlust (Piano)" (aus "Mirror Ring") ist einer derjenigen Songs, die man oft hören kann, ohne dass sie nerven oder dass sie tiefe Spuren hinterlassen. Letzteres gelingt erst, wenn man sich bewusst auf "Wanderlust" konzentriert - und dann lässt das Lied einen nicht mehr los.

Der The Kinks-Song "(A) Face In The Crowd"
(aus "Mirror Ring") stammt vom Album "Soap Opera" aus dem Jahr 1975 und es geht in ihm darum, nach einem Leben im Rampenlicht zu sich selbst zu finden und in der Menge unterzutauchen, um nicht weiter eine Rolle spielen zu müssen. Der Song gehört zu den ausgereiftesten, edelsten und gefühlvollsten Kompositionen von Ray Davies und ist somit hinsichtlich seiner authentisch transportierten Gefühlslagen kaum zu übertreffen. Das gelingt auch Ensign Broderick nicht, aber er gibt sich hörbar Mühe, eine angemessene Version abzuliefern.
 
Es sind die eigentümlich konstruierten Nuancen in der Vortragsweise, die Erinnerungsfetzen in den Kompositionen (z.B. "A Man Needs A Maid" von Neil Young in "Snow Day") sowie das schonungslose Fallenlassen von kommerziellen Zwängen und Erwartungshaltungen, die die Lieder attraktiv hervorstechen lassen. Intimität + berauschende Schwingungen + grollende Unruhe + würdevolle Hingabe = Ensign Broderick.
 
"Come Down" und "Mirror Ring" erschienen am 16. Mai 2025 ganz formvollendet und altmodisch neben der Möglichkeit des Downloads nur auf Vinyl. Beide Platten haben jeweils eine Spielzeit von unter 40 Minuten und hätten auch hinsichtlich der ähnlichen Ausrichtung ein Doppelalbum bilden können. Einen Favoriten gibt es unter den Vinyl-Ausgaben nicht. Mag man eine, möchte man beide besitzen. Die balladeske, durch Gesang begleitete Klaviermusik ist in diesem Format nicht nur für Nostalgiker und Romantiker interessant!

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