Amyl And The Sniffers - Cartoon Darkness (2024)

Frechheit, Provokation und ungezügelter Garagenrock: Bei "Cartoon Darkness" von Amyl And The Sniffers schlägt das Rock & Roll-Herz oft im deftigen Krawall-Takt.

Auch Krach machen will gelernt sein. Nur einfach rotzig, böse oder laut zu sein, nützt alleine wenig, um nachhaltig eindrucksvolle Musik zu erzeugen. Damit dem Underground-Rock provokant-aufklärende Inhalte und nachhaltig wirksame Strukturen verliehen werden können, gehören Verstand und Einfühlungsvermögen immer zur Gestaltung dazu. Oder um es auf einen Nenner zu bringen: man muss griffige, aufwühlend-emotionale Songs schreiben und druckvoll-packend umsetzen können, um Herz, Hirn und Bauch in Flammen zu versetzen. Und das gelingt dem Quartett um Sängerin Amy Taylor trotz oder wegen eines hohen Trash-Faktors in aller Regel.


Amyl And The Sniffers bestehen neben Amy Taylor noch aus dem Gitarristen Declan Mehrtens, der einen Großteil der Kompositionen auf dem neuen Werk mitzuverantworten hat, aus Gus Romer am Bass und dem Schlagzeuger Bryce Wilson. 
"Cartoon Darkness" ist das dritte Album der Band, nach "Amyl And The Sniffers" aus 2019 und "Comfort To Me" von 2021. 

Das nur knapp über 33 Minuten laufende aktuelle Album des Gespanns aus Melbourne beginnt drastisch. "Jerkin'" spart nicht mit Beschimpfungen und walzt alles mit einer massiven Breitseite von schmirgelnden Gitarren- und peitschend-stoischen Rhythmus-Attacken nieder, was nicht bei drei auf dem Baum ist. Wenn Amy dann noch ihren beißend-zornigen Gesang rauslässt, dann wird klar: Es werden keine Kompromisse geduldet, wenn es darum geht, die eigene Stimme zu erheben und Unzufriedenheiten sowie Missstände plakativ zu äußern.

"Chewing Gum" würzt Hard-Rock mit Power-Pop und erreicht dadurch einen Groove, der diesem energischen Stück eine gewisse Lockerheit injiziert, ohne dass ihm dabei die Zähne gezogen werden. Als Referenz kann "Cherry Bomb" von The Runaways herangezogen werden.

Für "Tiny Bikini" verwandelt sich Amy gesanglich in ein laszives Objekt der Begierde und entlarvt alle Voyeure, die in ihr aufgrund eines winzigen Bikinis nur ein Lustobjekt sehen und nicht eine selbstbewusste Frau. Der diese Situation begleitende Garagenrock ist einnehmend und glänzt mit knappen, brachialen Led-Zeppelin-Style-Gitarren-Akkorden, sodass sich sogar Classic-Rock-Fans mit dem Stück identifizieren könnten. 

Mit "Big Dreams" demonstrieren Amyl And The Sniffers ihre frisch gewonnene musikalische Vielseitigkeit. Weniger unkontrollierte Bösartigkeit, dafür mehr Song-Substanz machen den Track zu einem vorzüglich mundenden Mid-Tempo-Adult-Pop, der bei aller Zurückhaltung auch die Muskeln spielen lässt. "Du hast große Träume, du willst hier raus. Du hast es satt, in der Wohnung festzusitzen." Dieser Textausschnitt offenbart, dass in der Poesie das Verlassen der Komfortzone unter schwierigen Bedingungen problematisiert wird.

"It's Mine" suhlt sich danach in Wut und wahnwitzigem Speed-Metal. Schließlich geht es um Toleranz, Selbstbestimmung und in gewisser Weise auch um Konsumterror. Diese Themen lassen sich natürlich nur schwer in einem Schlager-Format übermitteln. Deshalb sind sie hier als rabiat geäußerte Meinungen definitiv besser aufgehoben.

Auch der "Motorbike Song" hat ordentlich Geschwindigkeit drauf. Das ist bei diesem Titel auch nicht verwunderlich. Die E-Gitarre peitscht den Track voran, sorgt aber auch für rauschhaft-verzückte Momente.

"Doing In Me Head" kommt dem vom Boogie angetriebenen Glam-Rock so nah, wie es nur möglich ist, ohne Glam-Rock zu kopieren. Es sind die sexuell erregenden Anspielungen, die bei T. Rex & Co. in der Luft lagen und auch hier mitschwingen. Dabei spielt dieser Aspekt höchstens am Rande eine Rolle: Klimawandel und Selbstreflexion bestimmen nämlich den Inhalt des Liedes.

"Pigs" rockt wie Hölle. The Gun Club, Iggy & The Stooges und The Sex Pistols standen Pate für diesen unbändig rasanten Song, der alles hat, was ein zupackender Power-Track braucht: Wucht, melodische Einprägsamkeit und ein Rhythmusgeflecht, das keine Verschnaufpause zulässt.

Wenn Amyl And The Sniffers eine Ballade spielen, dann darf man nicht mit zuckersüßem Pop rechnen. "Bailing On Me" bekam zwar eine klar definierte Melodie zugewiesen und erreicht kein hohes Tempo, schwebt aber trotzdem nicht mit dem Kopf im Wolkenkuckucksheim, sondern bleibt souverän und cool.

Der Fake-Disco-Rhythmus lässt "U Should Not Be Doing That" an Hot Chocolate erinnern. Das Lied tummelt sich aber hauptsächlich in einem widerstandsfähigen Roots-Rock-Umfeld, welches federnden Southern-Rock lustvoll-beschwingt einbezieht. Die Komposition transportiert auf dieser Basis den Wunsch, gesellschaftlichen und familiären Zwängen zu entkommen. 

"Do It Do It" vermittelt unmittelbar ausgelassene Party-Stimmung, die den Schwung von B-52`s-Songs und die reißerische Energie der Bottle Rockets beinhaltet. Das Ergebnis ist sehr verführerisch und stimulierend.

"Going Somewhere" lässt zunächst ein wenig die Straffheit und Konsequenz vermissen, die die anderen Stücke auszeichnet, steigert sich aber noch bis zum Schluss zu einem furiosen Finale.

Zum Schluss vereinigen Amyl And The Sniffers mit dem zweiminütigen "Me And The Girls" Tradition mit Moderne: Ein klassischer Pop-Song wird mit Hip-Hop-Gesang angereichert, was in letzter Konsequenz eine Versöhnung von Harmonie und Protest bedeutet.

""Cartoon Darkness" handelt von der Klimakrise, von KI, Politik und dem Gefühl der Leute, online mit ihrer Stimme etwas bewegen zu können, während wir alle nur das Datenbiest Big Tech füttern, den Gott unserer Zeit." [...] "Die Zukunft ist "cartoon" und das Rezept dagegen "dark"." [...] "Es ist nur ein Witz. Es ist Spaß", erklärt Amy Taylor. Die Gegenwart ist bedrohlich, aber Schwarzmalerei bringt uns auch nicht weiter. Wir müssen wachsam bleiben und die Wahrheit auf den Tisch bringen, ohne dabei den Spaß am Leben zu verlieren. So in etwa könnte man diese Parolen zusammenfassen.


Amyl And The Sniffers halten also die Rebellion, wild ausufernde Lust und die Leidenschaft, die sich vom Künstler zum Zuhörer überträgt, am Leben. Sie legen mit "Cartoon Darkness" ein provokantes Album vor, das sie musikalisch reifer denn je zeigt, ohne dass bei dieser Transformation der Biss verloren gegangen wäre. Der Gruppe ist es gelungen, innerhalb ihres Spektrums für eine erstaunliche Bandbreite bei gleichbleibend hohem Spannungs-Level zu sorgen. 

Der Rock & Roll wurde schon oft totgesagt. Mit Amyl And The Sniffers zeigt er sich von seiner attraktiven, sehr impulsiven Seite, was diese Behauptung zum wiederholten Mal widerlegt. "Hey Hey, My My, Rock & Roll Will Never Die" (Neil Young, "Rust Never Sleeps", 1979).

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