John Cale - Music For A New Society (Re-Release) und M:FANS (2016)

JOHN CALE wird bald 74 Jahre alt und er ist immer noch aktiv. Als Mitglied von THE VELVET UNDERGROUND schrieb er Rock-Geschichte und seine Solo-Arbeiten sind unter Kennern hoch geschätzt. Nun hat er sein 1982er-Werk MUSIC FOR A NEW SOCIETY klanglich überarbeitet mit mit Bonus-Tracks wiederveröffentlicht. Außerdem wurden die Aufnahmen überarbeitet und neu zusammengestellt. Diese Verjüngungskur heißt M:FANS.

John Cale verarbeitet seine Vergangenheit, indem er „Music For A New Society“ von 1982 wiederveröffentlicht und überarbeitet.

John Cale: Music For A New Society (CD) – jpc

John Cale hat Bratsche und Piano studiert und ist eigentlich Avantgardist. Er hat Musik also ursprünglich aus der Sicht eines bildenden Künstlers erfahren. Seine Ausbildung genoss er bei angesehenen Minimal-Art-Pionieren wie John Cage oder LaMonte Young, bis er 1965 zusammen mit Lou Reed (Gitarre, Gesang), Sterling Morrison (Gitarre), Mo Tucker (Schlagzeug) und anfangs auch Fotomodell Nico (Gesang) Bestandteil der legendären The Velvet Underground wurde. Dieses Gebilde war 1966 das Rock & Roll-Aushängeschild von Andy Warhol, der die Band zunächst in seinen Multi-Media-Shows einsetzte. The Velvet Underground produzierten danach einige heute weltweit anerkannte Meilensteine. Cale stieg jedoch schon nach dem zweiten Album „White Light White Heat“ (1967) aus, um eine Solo-Karriere zu beginnen.
Seine Musik bewegt sich seitdem im Spannungsfeld zwischen Pop und Anspruch, wobei besonders die offensichtlich zugänglicheren Arbeiten zeitlose, tiefgreifende Songs hervorgebracht haben. „Music For A New Society“ war 1982 eine Veröffentlichung, die zum einen der herzzerreißenden Melodie huldigte und damit an das Meisterwerk „Paris 1919“ (1973) anknüpfte. Zum anderen gab es auch aufwühlende, leicht verstörende Kompositionen zu hören.
Dieses Wechselbad der Eindrücke macht den besonderen Reiz des Albums aus. Cales Betrachtungsweisen trennen nicht strikt zwischen leichter und schwerer Unterhaltung. Statt Schwarzweiß-Malerei gibt es auch hell-schwarze oder dunkel-weiße Färbungen. Abstufungen, Zwischentöne und multi-emotionale Erlebnisse sind dabei wichtig. John Cale ist Romantiker mit Blick auf die Realität. Darin gibt es keine reine, unverfälschte Schönheit. Deshalb stellt er diese auch nicht pur dar, sondern setzt Kontrapunkte und teilt Fußangeln aus. Er zerstört damit die verklärte Sicht auf die Romantik. Vielleicht leuchten die schönen Momente seiner Kompositionen deshalb so hell, weil sie zeigen, wie wichtig es ist, jeden Augenblick der Unbeschwertheit zu genießen, da diese nur von kurzer Dauer sind.
Die Kernstücke, die die Haltepunkte des Werks bilden, sind definitiv die Balladen. Die Stimme nimmt bei der Gestaltung eine zentrale Bedeutung ein. „Taking Your Life In Your Hand“ wird von traurigem, aber festem Gesang getragen. Die zerfaserte, intime Instrumentierung von E- und Grand-Piano sowie Slide-Gitarre hört sich wie aus Splittern zusammengesetzt an.

Die reizvolle Melodie von „Thoughtless Kind“ wird über weite Strecken durch eine freie Begleitung und einen unbarmherzig tickenden Rhythmus getarnt. Den leidenden, schmerzerfüllten Gesang von „If You Were Still Around“ umwehen bedrohliche Kirchenorgel-Schwaden. „Close Watch“ hat eine ergreifende Melodie, die von einem unsentimentalen, sachlich-nüchternen Stimmbandeinsatz umkränzt wird.
Die bewegenden Töne von „Broken Bird“ können stellenweise dramatisch ausbrechen. Der Song wird mit E-Piano und Spinett verziert, was ihm eine kammermusikalische Linie verleiht. „Chinese Envoy“ fängt wie ein Folk-Song mit akustischer Gitarre an. Dann übernehmen schwirrende Streicher die Regie und Piano-Tupfer setzen Leuchtpunkte. John Cale agiert hier beherrscht, manchmal auch bestimmend.
John Cale arbeitet mit Brüchen und Gegensätzen. Neben den Stücken, die aus Kummer entstanden sind und diesen Gefühlszustand auch im Kern transportieren, gibt es zusätzlich ablenkende Lieder. Beim als Piano-Ballade beginnenden „Damn Life“ wurde „Freude schöner Götterfunken“, ein Teil der 9. Sinfonie von Beethoven und offizielle Europahymne, eingeflochten. Der Song bekommt im Mittelteil aufwühlende E-Gitarren und Streicher-Beigaben verpasst. „Sanctus (Sanities)“ ist die Vertonung eines Gedichts, das mit einer Improvisation von Orgel, Schlagzeug und Geräuschen unterlegt wird. Für Cale grundsätzlich nicht untypisch sind rhythmische Rocker. „Changes Made“ ist aber auf dem Album das einzige Beispiel für diesen Stil. Die Erzählungen einer Frau begleiten „Rise, Sam And Rimsky Korsakov“, während im Hintergrund klassische Musik läuft. Das Stück ist ein Fremdkörper auf der Platte.
Die ursprüngliche Veröffentlichung von „Music For A New Society“ wurde um drei Bonus-Tracks ergänzt. „Library Of Force (Unreleased)“ zeigt den experimentellen Cale, der mit Elektronik, Schock-Akkorden und Sound-Schleifen arbeitet. Die Outtakes von „Chinese Envoy“ und „Thoughtless Kind“ werden nur von akustischer Gitarre begleitet und offenbaren den Musiker so, wie er bei seinen Solo-Auftritten klingt. Pur, eindringlich und intensiv.
Die Mischung macht`s. „Music For A New Society“ hat über die Jahre nichts von seiner Faszination verloren, weil die Songs nicht offensichtlich aufgebaut sind und ihr Ablauf nicht berechenbar ist. John Cale ist als musikalischer Direktor omnipräsent und stattet die Lieder nur mit so viel Wohlgefallen aus, wie nötig ist, um Interesse zu wecken. Den Rest füllt er mit Herausforderungen aus. Die klangliche Überarbeitung ist übrigens gut gelungen. Es werden teilweise Töne zutage gefördert, die bei der Erstveröffentlichung verschluckt blieben. Diese Wiederveröffentlichung wird noch von der Überarbeitung „M:FANS“ begleitet. Beide Werke sind zusammen als Doppel-CD oder als Download sowie als Einzel-LP zu erhalten.
„M:FANS“ ist John Cales Überarbeitung seiner „Music For A New Society“.
John Cale: M: Fans (Music For A New Society) (Kritik & Stream ...
John Cale wurde hauptsächlich durch seine Mitgliedschaft bei The Velvet Underground, die von 1965 bis 1968 dauerte, bekannt. Viel eindrucksvoller, lebendiger und abwechslungsreicher sind jedoch seine Solo-Arbeiten, die von reinen Pop-Platten („Vintage Violence“, 1970) über experimentelle Minimal-Art-Sachen („Church Of Anthrax“ mit Terry Riley, 1971), Rock-Alben („Honi Soit“, 1981) bis hin zur Auslotung, wie anspruchsvolle Singer/Songwriter-Werke erschaffen werden können, führen. Zu der zuletzt genannten Kategorie kann auch „Music For A New Society“ von 1982 gezählt werden. Es handelt sich hierbei um ein komplexes, nicht leicht durchschaubares Werk, das Klänge aus der klassischen Romantik mit Experimenten, die eine erschütterte Gefühlswelt voll von Kummer und Verlust ausdrücken, in Noten fasst. Dieser Meilenstein des heute 73-jährigen gebürtigen Walisers wurde nun klanglich aufpoliert und mit zusätzlichen Tracks wiederveröffentlicht.
Außerdem erscheint parallel eine erweiterte Aufarbeitung aus heutiger Perspektive unter dem Titel „M:FANS“. „M:FANS“ ist nichts anderes als die Abkürzung von „Music For A New Society“. „M:FANS“ ist also eine Reflektion über das eigene Werk nebst Reproduktion dessen Bedeutung für die Gegenwart. Neuen Zündstoff bekam diese Idee durch den Tod von Lou Reed, der Fassungslosigkeit und Entsetzen bei Cale auslöste. Die emotionale Lage bei der Entstehung von „Music For A New Society“ war damals Kummer. Bei der Umsetzung von „M:FANS“ herrschte vornehmlich Wut vor.
Die Aufbereitung zeigt den historisch interessierten Cale aber nicht als Wutbürger. Er betont, dass es sowieso an der Zeit gewesen war, die Verzweiflung von früher zu verarbeiten und den Ideen von 1981 neuen Atem einzuhauchen. So ist die Neuauflage für John Cale auch ein reinigender Prozess geworden. Die Veröffentlichung ist außerdem ein temperamentvolles Lebenszeichen und ein Beweis für die unvergängliche Qualität von guter Musik. Nie war dieses Bekenntnis so wertvoll wie heute!
„M:FANS“ klingt nicht so futuristisch, neuartig und abseitig wie einst „Music For A New Society“. Cale überzieht viele Songs in der Neuauflage mit einer metallischen Patina. Er schirmt sie ab und erwirkt dadurch Distanz zwischen Künstler und Hörer. Die Unbarmherzigkeit der Vergänglichkeit wird nicht nur bei „Taking Your Life In Your Hand“ durch einen unnachgiebigen Rhythmus charakterisiert. Und „Thoughtless Kind“ mutiert zum düsteren Electro-Pop. Die Melodie bekommt mehr Raum und Unterstützung als beim Original, bleibt aber reserviert und kühl. Harte Indie-Disco-Rhythmen sorgen dabei für eine Assoziation von unterdrücktem Zorn. „If You Were Still Around“ ist von dunkler Färbung und hört sich durch das monotone Synthesizer-Brummen und den leicht verfremdeten Gesang aus dem Hintergrund morbide und alptraumhaft an.
Ein paar Titel machen einen radikalen Veränderungsprozess durch. Aus der diskreten Ballade „Close Watch“ wurde ein Bass-betonter Electro-Pop

und „Chinese Envoy“ ist jetzt ein Tanzboden-tauglicher Funk-Rock. Das im Original trocken rockende „Changes Made“ wurde zum druckvollen, maschinenhaften Indie-Disco-Stück entwickelt. Das klingt, als ob die Sisters Of Mercy zusammen mit Joy Division musizieren würden.
Neue Reihenfolge, Umgestaltung der Stücke und neue Sichtweise: „M:FANS“ ist eine interessante, wenn auch nicht zwingende Aufarbeitung geworden und macht über weite Strecken einen mechanischen, desillusionierten Eindruck. Nur „Broken Bird“ und das neue, versöhnliche „Back To The End“ gehen emotional in die entgegengesetzte Richtung und zeigen unverstellt tiefe Gefühle und tatsächlich fast makellose Schönheit.

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