Milliarden - Betrüger (2016)

MILLIARDEN nennt sich ein Pop-Punk-Duo aus Berlin, dass nach einer EP und einigen Promo-Videos jetzt ihr Debüt-Album BETRÜGER vorlegt. Trotz Hype lässt sich nicht leugnen, dass die Jungs genauso wissen, was sie tun und das auch können: Provokation trift auf druckvolle, eingängige Power-Pop-Stücke. RIO REISER und DIE ÄRZTE lassen grüßen. Dennoch: Gelungen und erfrischend.

Zwei zornige junge Männer bringen etwas Aufruhr in die deutschsprachige Popmusik.

Milliarden sind zwei junge Wilde aus Berlin. Es handelt sich bei ihnen um den Sänger und Gitarristen Ben Hartmann und den Multiinstrumentalisten Johannes Aue. Diese Musiker gebärden sich manchmal, als kämen sie aus dem musikalischen Untergrund der Hauptstadt, im Grunde genommen sondieren sie aber, unter welchen Bedingungen es eine Nische zwischen Rebellion und Charts-Notierungen gibt. Künstlerisch sind Ähnlichkeiten zu den Ärzten („Oh Cherie“), Rio Reiser („Milliardär“, „Freiheit is ne Hure“, „Bleib hier“) oder Michy Reincke („Im Bett verhungern“, „Zucker“) auszumachen und für „Marie“ und „Ende Neu“ lassen sie den Pop-Punk lichterloh brennen.
Milliarden – Betrüger - Ahoimag

Der Gesang pendelt oft überschwänglich zwischen Wut und Verzweiflung („Die Angst“, „Ende Neu“), aber die Hoffnung schwingt in den ruhigeren Passagen dennoch mit. Einige Texte prägen sich nachdrücklich ein, weil sie so unverstellt und direkt formuliert werden: „Oh Cherie“ und „Zucker“ konstruieren stürmische Fälle von obsessiver Liebe und bei „Im Bett verhungern“ werden die Auswirkungen einer alles ausfüllenden leidenschaftlichen Beziehung skizziert. Der verwendete Gitarren-Part spült dabei Erinnerungen an David Bowies „Heroes“ ins Gedächtnis und „Milliardär“ ist ähnlich frech-anarchisch wie Rio Reisers „König von Deutschland“ angelegt.
„Bleib hier“ vermittelt das bittere Flehen um Verzeihung und „Betrüger“ setzt sich mit den Gedanken eines zweifelnden Schriftstellers auseinander. „Freiheit is ne Hure“ berichtet davon, dass der Mensch dazu tendiert, immer das zu wollen, was er grade nicht hat und deshalb selten Zufriedenheit erlangt. Dazu werden manchmal drastische Gegensätze herangezogen, die grade in diesen unruhigen Zeiten schockierend sein können („Ich will ein Mörder sein, ein Terrorist. Ich will voller Liebe sein, weil es dasselbe ist“). Das Rhythm & Blues/Punk-Gemisch „Blitzkrieg Ballkleid“ spielt mit einer Aneinanderreihung von Schlagwörtern, die inhaltlich nichts miteinander zu tun haben, aber die aufpeitschende Wirkung einer Dauerbeschallung mit aufregenden Meldungen erzeugen.
„Katy Perry“ zeigt, wohin blinde Star-Verehrung führen kann, wenn sie auf die desillusionierende Sicht des Alltags trifft. „Friedrichsdorf“ ist als Hommage an Ian Curtis von Joy Division gedacht und spiegelt die Trostlosigkeit eines Fans wider, der sich aller Möglichkeiten beraubt sieht, aus seinem bisherigen Leben auszubrechen und „Die Angst“ beschreibt die Wirkung und Gewalt dieses mächtigen Gefühls. Krawall und Anarchie begegnen dem Hörer in „Ende Neu“ und „Schall und Rauch“ hat den naiven Charme der griffigeren Stücke von AnnenMayKantereit.
Auch wenn der Vortrag des Duos formelhaft, kalkuliert und marketingtechnisch optimiert erscheint, so ist die Wirkung doch beachtlich. Die Lieder haben Kraft und Biss, die Texte vermitteln inhaltliche Durchschlagskraft und verbreiten gesellschaftspolitische und psychologische Poesie. Auch wenn der Gesang emotional oft ähnliche Züge trägt, so kann er aufgrund der vermeintlichen Offenlegung von ungeschönten Wahrheiten schnell für Sympathie sorgen. Da werden Empfindungen rüde heraus gebellt, wie es in anderer Form schon Peter Hein anno 1980 bei „Monarchie und Alltag“ von den Fehlfarben getan hat.
In gewisser Weise handelt es sich bei diesem Projekt um einen rotzigen Gegenentwurf zu den braveren AnnenMayKantereit. Diese beleben den Protestsong mit Blick auf zwischenmenschliche und sozialpolitische Belange. Milliardär ist die ungehobelte, kantige, aggressive Variante, bei der durchaus auch Töne anschlagen werden, die verschrecken können. Oder handelt es sich hier etwa um einen explosiven Gegenentwurf zu angesagten gefühlsduseligen Lied-Schmieden wie Andreas BouraniTim BendzkoJohannes Oerding oder Xavier Naidoo? Auf jeden Fall ist den Berlinern aber mit „Betrüger“ ein beachtenswertes musikalisches Statement geglückt, das die kuschelige deutschsprachige Musikszene ein wenig aufrütteln sollte.
Und ein Promo-Video hier:

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