CHARLOTTE GAINSBOURG - Rest (2017)

Sechs Jahre hat es gedauert, bis CHARLOTTE GAINSBOURG ein neues musikalisches Lebenszeichen senden konnte. Ein Unfall, die Rolle als Mutter und ihre Schauspielrollen haben verhindert, dass REST eher erscheinen konnte. Mit jedem Album erlangt sie mehr Kontrolle über das Endergebnis, jetzt schrieb sie die Texte fast im Alleingang. Musikalisch beinhaltet REST keine Weiterentwicklung gegenüber IRM aus 2009, aber betörende Musik gibt es trotzdem.
Charlotte Gainsbourg haucht dem elektronisch geprägten Art-Pop laszive Sinnlichkeit ein.
Als Kind eines berühmten Künstlers ist der Weg in die eigene Öffentlichkeit oft Bürde und Chance zugleich. Eine Bürde, weil die Erwartungen beim Publikum hoch sind und eine Chance, weil die Aufmerksamkeit der Medien sicher ist, auch wenn das Interesse vielleicht zum Großteil dem prominenten Elternteil gelten kann. Von diesen unvorteilhaften Umständen können unter anderem Sean Lennon, Sohn von John Lennon, Baxter Dury, Sohn von Ian Dury, aber auch Charlotte Gainsbourg, Tochter von Serge Gainsbourg und Jane Birkin ein Lied singen.
Charlotte ist es allerdings trotz dieser prekären Ausgangssituation gelungen, sich als talentierte Schauspielerin durchzusetzen und auch als Musikerin einen guten Eindruck zu hinterlassen. Dadurch konnte sie sich gegenüber dem Über-Vater etablieren, der als ungezügelter Chansonnier und Lebemann in Frankreich Kultstatus erlangte. Ihre ersten musikalischen Erfahrungen erlangte die Tochter berühmter Eltern schon 1986 mit dem von ihrem Vater produzierten Album „Charlotte For Ever“, das auch seine Kompositionen enthielt. Danach gab es zwar immer wieder Stippvisiten in die Welt der Musik, aber die Schauspielerei nahm eine wichtigere Rolle im Leben der inzwischen dreifachen Mutter ein. Erst 2006 machte das Teilzeit-Yves-Saint-Laurent-Model wieder als Sängerin und Texterin von sich reden. Für „5:55“ wurden die französischen Electronic-Art-Popper von Air für die musikalische Ausgestaltung sowie Neil Hannon (The Devine Comedy) und Jarvis Cocker (ex-Pulp) als Unterstützung für die Lyrik engagiert. Die Streicher-Arrangements übernahm David Campbell, der Vater von Beck und für den Rhythmus sorgte der afrikanische Drummer Tony Allen, der unter anderem schon in den 1970er-Jahren für die Afro-Beat-Legende Fela Kuti gespielt hatte.
Diese berühmten Mitstreiter legten sich mächtig ins Zeug, um das erste unabhängige Pop-Chanson-Werk der Schauspielerin gelingen zu lassen. Charlotte spielt stimmlich dabei mehr als einmal die Erotik-Karte aus. Ihr Gesang ist manchmal sogar dem Bereich des sinnlichen Hauchens zuzuordnen, den ihre Mutter nicht nur im Duett mit ihrem Vater beim Beischlaf-Hit „Je T`aime Moi Non Plus“ gesellschaftsfähig machte. Die Zusammenarbeit mit David Campbell führte zum Kontakt mit Beck, der die Leitung des Werkes „IRM“ (= Abkürzung für Kernspintomografie) übernahm, welches 2009 erschien. Das Live-Album „Stage Whisper“ von 2011 enthält als Ergänzung noch Reste aus dieser Kooperation. Nach sechs Jahren Pause, die auch durch einen schweren, fast tödlichen Wasser-Ski-Unfall aus 2007 entstanden waren, erscheint nun mit „Rest“ eine Songsammlung, die z.B. mit den Gästen Paul McCartney, Guy-Manuel de Homem-Christo (Daft Punk), Connan Mockasin (Soft Hair) und Owen Pallet (ex-Final Fantasy) wieder allerlei bekannte Namen aufbietet.
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Der Abzählreim „Ring-A-Ring O’ Roses“ dient Charlotte als Aufhänger und Ankerpunkt für den Refrain des geschmeidigen Eröffnungs-Stücks. Das Lied kann schon alleine durch seine außerordentliche Lieblichkeit überzeugen. Zum Ausschmücken werden dann noch raumfüllende Verzierungen angeboten, die in Form von sich ergänzenden Fußangeln funktionieren. Denn Lust und Andacht sind hier keine Gegensätze, weil beide Gefühlsausprägungen Sinnbilder für Leidenschaft darstellen. Wolkige und aufbrausende Streicher-Wände, stechende Funk-Riffs sowie fordernde, stützende Piano-Akkorde sorgen für einen bewegten, bildhaften Ablauf. Die vokale Tonlage ist liebenswert, sinnlich und hell. Im Wechsel dazu kann sie auch fest, bestimmend und sachlich fließend sein. Dadurch entsteht der Eindruck, zwei Frauen würden sich den Gesang teilen.

„Lying With You“ fällt dramaturgisch mit der Tür ins Haus. Der alarmierende, stürmische Beginn geht in einen um Tempo bemühten Pop-Song über, dessen getriebenes Geschehen durch harmonisch gestimmte Zwischenstationen abgemildert wird. „Kate“ ist der 2013 verstorbenen Halbschwester Kate Berry gewidmet, die als Fotografin tätig war. Es wird nicht zugelassen, dass die gedämpfte Stimmung des Liedes in stumpfe Trauer umschlägt. Das Aufbäumen gegen das Schicksal, Zuversicht und das Suchen nach Perspektiven spielen nämlich auch eine gewichtige Rolle bei den erzeugten Emotionen. Die Verzweiflung, die aus dem Schicksalsschlag resultierte, drückt Charlotte durch hohe Tonlagen aus, die sie überfordern. Hier bricht ihre anmutige Stimme und offenbart eine verletzte Seele.
„Deadly Valentine“ groovt knuspernd im Disco-Takt, mag es aber auch opulent, weit ausholend und spacig. Der Gesang wird monoton-abgeklärt verabreicht und unterstützt so die gewollte Gleichförmigkeit des Rhythmus. Die Macht der Maschinen und die mondäne Eleganz der Streicher versuchen die menschliche Komponente in die Defensive zu drängen. Exotisch angereicherte Elektronik eröffnet „I`m A Lie“. Die dabei durch kreiselnde Synthesizer-Figuren entstehende vitale Kirmesatmosphäre verflacht jedoch im Verlauf und wird durch ein statischeres, dunkler gestimmtes Vorgehen ersetzt. Das Lied „Rest“ verfügt über filigranen, hypersensiblen Gesang, der das fein gesponnene Gerüst vorsichtig und behutsam umgarnt. Verträumt und wirklichkeitsfern tropfen die Töne in einem langsamen Strudel aus glockenähnlichen und kristallinen Klängen gleichmäßig und schleppend dahin.
„Sylvia Says“ entpuppt sich als tanzbarer Dance-Pop auf Funk-Basis. Der Track zapft unter anderem noch schwärmerischen Philly-Soul und die Disco-Pop-Seite von Sister Sledge („We Are Family“) an. Mit „Songbird In A Cage“ erblickt ein bisher unveröffentlichter Song von Paul McCartney das Licht der Welt. Das kam so: Bei einem gemeinsamen Essen sprach Charlotte den ex-Beatle darauf an, ob er Lieder im Portfolie habe, die nicht zur Veröffentlichung vorgesehen seien. Daraufhin schickte Paul tatsächlich eine Demo-Aufnahme, die vom „Rest“-Produzenten Sebastian Akchoté (Künstlername: SebastiAn) neu aufbereitet wurde. Später trug Sir McCartney sogar noch selber zur Vervollständigung des Stücks im Studio mit bei. Beim Hören der vorliegenden Version wundert es nicht, warum die Ursprungs-Idee nicht vom Urheber in diese Richtung weiterentwickelt wurde: Die Melodie kommt nämlich nicht so richtig aus dem Quark und der Refrain macht einen umständlichen Eindruck. Die holprig-sperrigen Arrangements stechen aus dem ansonsten wohlig verschwommen gestalteten Gefüge des Albums heraus. Deshalb dauert es auch eine Weile, bis der Tatbestand der eckigen und spröden Grooves in diesem Umfeld gewürdigt werden kann. Aber dann wird der Track als wohltuende Andersartigkeit empfunden.
Für „Dans Vos Airs“ lässt sich die Sängerin als laszive Chanteuse gleichwertig zum Instrumenteneinsatz in Szene setzen. Der Elektro-Folk leidet letztlich jedoch unter seiner leicht durchschaubaren Melodieführung und den unspektakulären, hinlänglich bekannten Zutaten. Charlotte denkt bei der Umsetzung ihrer Lieder oft cineastisch. Einladende, ausgeschmückte und überwältigende Gefühlsausbrüche begleiten deshalb ihren musikalischen Weg. „Les Crocodiles“ lebt vom Kontrast zwischen Bombast und Intimität, was zu kontrastreichen Emotions-Wallungen führt. „Les Oxales“ swingt dann im impulsiven, polyrhythmischen Jazz-Groove-Modus und ist dadurch sogar fast tanzbodentauglich. Wäre da nicht das verspielt improvisierte Ende. Nach etwas Stille setzt dann als Zugabe noch ein Track ein, bei dem aus einem Kinderlied ein kurzer Pop-Song konstruiert wird. Diese Transformation wurde raffiniert und überraschend umgesetzt.
Für die singende Schauspielerin ist die Musik mehr als nur ein Nebenprojekt zur Selbstdarstellung. Sie betreibt die Verschmelzung von Pop und Chanson mit Blick auf Ernsthaftigkeit bei gleichzeitiger unterhaltsamer Leichtigkeit. Musik und Schauspielerei brachte die heute 46-jährige Frau schon mit ihrer Arbeit am 2007 erschienenen, fiktiven, ambitionierten, biografisch angelehnten Episoden-Film „I`m Not There“ von Regisseur Todd Haynes über Bob Dylan zusammen. Dort übernahm sie eine Filmrolle und trug zum Soundtrack eine laszive Interpretation von „Just Like A Woman“ zusammen mit Calexico bei.
Erstmals verfasste sie nun für das Album „Rest“ die Texte überwiegend alleine und singt französisch und englisch. Teilweise benutzt sie beide Sprachen in einem Song, wobei zur Modellierung die Variierung der Klangfarbe statt die Möglichkeit des voluminösen Aufblähens genutzt wird. Charlotte stellt sich auf den Cover-Abbildungen ihrer Platten konstant stilsicher mit Schwarz-Weiß-Porträts vor, die eine Neigung zu verhangener Melancholie zeigen. Dieses Image passt ausgezeichnet zum modernen, elektronisch geprägten Art-Pop, den die in London geborene und zurzeit in Paris lebende Künstlerin entworfen hat. Mit jedem Album hat sich die begabte Frau ein Stück mehr Eigenständigkeit verschafft und damit ihre Individualität deutlicher herausgearbeitet. Inhaltlich werden aktuell Kindheitsängste, der Status als prominente Person und der Tod der Halbschwester verarbeitet. Das sind schwere, persönliche Themen, die ein stabiles Gerüst benötigen, um tragfähig sein zu können.
Gestalterisch wird aus den Erfahrungen mit „5:55“ und „IRM“ geschöpft. Dadurch können die harmonisch-verspielten, seelenvollen Air-Gestaltungen mit den wagemutigen, aufrüttelnden, unbequemeren Ideen einiger Beck-Schöpfungen verbunden werden, um sowohl betörende, dem Gemüt schmeichelnde als auch anspruchsvolle, den Intellekt ansprechende Ergebnisse abzuliefern. Stücke voll kühler Erotik und aufreizender Sinnlichkeit, die mit fragilem Anmut oder hypnotisch-suggestiven Rhythmen durchzogen sind, kommen so zustande. Allerdings schwankt die Qualität der Kompositionen und es überwiegt die unkomplizierte Pop-Komponente deutlich gegenüber dem Kunst-Anspruch. Letztlich ist „Rest“ dennoch ein schönes Pop-Album geworden, auch wenn es musikalisch keinen Entwicklungs-Fortschritt gegenüber „IRM“ aufweist. Der Mehrwert liegt maßgeblich bei der Sängerin, die auch schwächeren Liedern ihren spezifischen, attraktiven Stempel durch ihre einnehmende, sensible Persönlichkeit aufdrückt.

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