Too Slow To Disco: Yacht Soul - The Cover Versions

Vorlagen aus dem West-Coast-Soft-Rock bestimmen die Auswahl der "Too Slow To Disco"-Reihe

Schon den ultimativen Soundtrack für den Sommer gefunden? Wie wäre es mit etwas gepflegtem Soul, der mit jeder Menge süffigem Pop durchzogen ist, leicht und geschmeidig ins Ohr geht und dessen Melodien eventuell sogar bekannt sind? Dafür haben sich die Macher der "Too Slow To Disco"-Reihe etwas besonderes ausgedacht: Sie durchsuchten die unendlichen Weiten der Easy Listening-Archive nach Smooth-Soul, auf die das Ursprungs-Motto von 2014 passt: "A Compilation Series Of Late 70s Westcoast Yachtpop You Can Almost Dance To." 

"Yacht Soul - The Cover Versions" ist trotzdem ungewöhnlich. Denn nachdem in der Frühzeit der Unterhaltungsmusik häufig afro-amerikanische Musiker von weißen Künstlern gecovert oder sogar illegal kopiert wurden, ist es hier so, dass schwarze Soul-, Funk- und R&B-Größen sich (legal) an den Ideen weißer Musiker bedienen. Und wie immer bei "Too Slow To Disco" kommen dabei entweder beglückende Töne für glücklich Verliebte oder tröstender Balsam für gescheiterte Beziehungen heraus.

Los geht`s mit dem unverwüstlichen "Summer Breeze" vom Soft-Rock-Duo Seals & Crofts, das 1972 ein Hit für sie war. 
Die Soul-Funk-Legenden The Isley Brothers lieferten dann 1973 auf ihrem Album "3+3" vielleicht die bisher ergreifendste und durchschlagendste Variante dieses Songs ab. 
Und für "Too Slow To Disco" ist die Soul-Formation The Main Ingredient aus Harlem am Start, die den Track 1974 veröffentlichte. Sie schaffen es tatsächlich, dem Song noch eine bisher unbekannte, gewisse knisternde Thriller-Jazz-Komponente mitzugeben und ihn dadurch in einem etwas anderen Licht dastehen zu lassen, ohne dass er dadurch seinen stimulierenden Charme einbüßen muss. Der perfekte Einstieg für einen entspannten Sommertag mit coolen Rhythmen und einem ebensolchen Getränk.
"He`s Gone" von der Jazz-Sängerin Dee Dee Bridgewater aus Memphis ist die Bearbeitung des Lieder "She`s Gone" vom Album "Abandoned Luncheonette" aus 1973 vom erfolgreichsten Pop-Duo aller Zeiten, nämlich von Hall & Oates. Es beleuchtet eine Trennungs-Situation, zwar nicht grade ein leicht verdauliches Thema, aber musikalisch empfehlenswert. 
Dee Dee singt so befreit, vollmundig-rund und durchdringend-intensiv, dass man davon ausgehen kann, dass die Zuversicht stärker als die Trauer ist. Obwohl die Geigen neben Philly-Soul-Aufmunterungen auch graue Wolken in den Himmel hängen, stehen die Zeichen auf Neubeginn. Die Bläser blasen zur Offensive, aber der Takt bleibt ruhig. Der Puls hat sich zunächst im Normbereich eingependelt, ist nicht mehr negativ erregt und lässt Vorfreude auf Veränderung erkennen. Und dann bricht sie durch, die frohe Erwartung auf ein neues Leben und die Klänge jubilieren und frohlocken zusammen mit der Protagonistin.
Etwas gehässig ist es schon, was Bill LaBounty seiner Verflossenen wünscht: "I Hope You’ll Be Very Unhappy Without Me". 
Aber enttäuschte Liebe kann schon tiefgreifende Gefühle wecken. Der amerikanische Soft- und Country-Popper ist bei uns relativ unbekannt geblieben, belieferte aber in den USA etliche Mainstream-Nashville-Country-Stars wie Steve Wariner oder Brooks & Dunn mit Songs. Die Smooth-Soul-Kapelle Tavares hat sich 1998 der 1975 geschriebenen Schnulze angenommen und eigentlich nichts daraus gemacht. Der Song war im Original schon belanglos und ist es auch in dieser Version geblieben.
Betty Everett hat sich die Messlatte hoch gelegt, wenn sie "God Only Knows" vom Beach Boys-Meisterwerk "Pet Sounds" (1966) adäquat interpretieren möchte. 
Sind doch die Songs dieses Jahrhundertwerks allesamt unantastbare Kulturgüter in ultimativen Fassungen. Entsprechend streng muss die Beurteilung dieser Version ausfallen. 

Die bekanntesten Titel der Soul-Sängerin Betty Everett waren "You`re No Good" (1963), das 1964 für The Swinging Blue Jeans und 1975 für Linda Ronstadt Chart-Erfolge brachte, sowie "Shoop Shoop Song (It`s In His Kiss)" aus 1964, mit dem Cher 1990 einen Welthit landete. Ihr stärkster Song ist jedoch "Hey Lucinda" von 1975, eine heftig groovende Soul-Funk-Nummer für die Ewigkeit. Wer so begeistern kann, der sollte doch auch "God Only Knows" einen besonderen Stempel aufsetzen können. Herausgekommen ist aber leider eine leichtgewichtige, leckere Interpretation, die die schwere Süße des Originals nicht abbildet. Sonst wäre das Lied ja wohl auch nicht auf dieser Zusammenstellung gelandet.
 
Was für den Klassiker der Beach Boys gilt, gilt generell auch für das Gesamtwerk von Steely Dan: Die Kompositionen und Arrangements von Donald Fagen und Walter Becker sind über jeden Zweifel erhaben und so cool und clever, dass sie dem Zahn der Zeit seit 1972 trotzen, weil sie nicht die geringste Abnutzung aufweisen. Der schwungvolle Pop-Jazz "Dirty Work" vom Debüt "Can`t Buy A Thrill" wurde von David Palmer und nicht wie die meisten Songs von Donald Fagen gesungen. Palmer kleidete das Stück mit einer angenehmen Durchschlagskraft mit Gespür für wirkungsvolle Dynamik-Wechsel aus.
Die Pointer Sisters können dem Track leider keine unbekannten Seiten entlocken. Frecher, weiblicher Charme und leidenschaftlicher Gesang der Neuinterpretation stehen der Abgeklärtheit, dem Hit-Instinkt und der Raffinesse des Originals gegenüber, wodurch der Ursprung musikalisch überzeugt. Trotzdem schön, dass es ein Steely Dan-Song auf die Compilation geschafft hat.
Und wo wir grade bei Steely Dan sind: Es ist schon ein Ritterschlag, wenn Donald Fagen für jemanden exklusiv einen Song schreibt und dann auch noch die Arrangements mitgestaltet. So geschehen bei "Lazy Nina", das auf dem Album "Pulse" des Keyboarders Greg Phillinganes im Jahr 1984 erschien und eindeutig die elegant-ausgeklügelte Handschrift von Fagen trägt. 
Ned Doheny ist ein fast vergessener Soft-Rock-Singer-Songwriter aus Kalifornien, dessen Alben "Ned Doheny" (1973) und "Hard Candy" (1976) heute gesuchte Sammlerstücke sind. Die Ballade "A Love Of Your Own" von "Hard Candy" 
wurde 1976 vom Soul-Quartett The Ebonys eingespielt und passt aufgrund seiner erhaben-zurückgenommenen, schleppenden, orchestral instrumentierten Art gut auf diese Song-Sammlung.
Airplay war ein Projekt aus dem Toto-Dunstkreis, das von David Foster (Keyboards) und Jay Graydon (Gesang, Gitarre) gegründet wurde. Die Band brachte nur eine Platte raus, die 1980 erschien und fiel danach wieder auseinander. Die Musiker tummelten sich im Soul-Funk-Pop-Umfeld und haben folgerichtig auch "After The Love Has Gone" von Earth, Wind & Fire aufgenommen. Aber auch ihr eigenes, stromlinienförmiges, Miami Vice-taugliches "Nothin` You Can Do About It", das bereits 1979 von der Sänger-Vereinigung The Manhattan Transfer veröffentlicht wurde, passt hervorragend zum Yacht Soul. 
1982 hat sich der Songwriter, Musiker und Produzent Leslie Smith nochmal über das Lied hergemacht, es aber in seinem ursprünglichen glatten Schleiflack-Look belassen. Cocktail-Musik, die niemandem weh tut, aber auch nicht zum konzentrierten Zuhören anregt.
Es scheint so, als erlebe die Soft-Rock-Gruppe Toto aus Los Angeles grade wieder eine kleine Renaissance. Einige junge alternative Pop-Künstler (z.B. Joel Sarakula oder Young Gun Silver Fox) lassen sich gerne von deren ultramelodischen Songs inspirieren und bauen darauf ihre frischen Ideen auf. Als hätten die Macher von "Too Slow To Disco" dies geahnt, haben sie zwei Toto-Cover-Versionen berücksichtigt. Wobei "In The Way" nicht von Toto aufgenommen, sondern direkt den Brothers Johnson zur Verfügung gestellt wurde, die es 1981 für ihr Album "Winners" verwendeten. Das Funk- und Disco-Duo pflanzt dem Song die Summe der Zutaten ein, die Lieder benötigen, um in den Radar von "Too Slow To Disco" zu gelangen: Einen gepflegten Groove, eine zart schmelzende Melodie, prägnante und sympathische Lead-Stimmen, ein sauberes, kurzes Gitarren-Solo und einen Refrain, der sofort hängen bleibt.
Das zweite Toto-Stück ist "Georgy Porgy" vom Debüt-Album aus 1978, das sich im Original wie eine Cover-Version einer Smooth-Soul-Ballade anhört. 
Die Bearbeitung der Funk-Jazz-Band Side Effect setzt den Track 1980 ordentlich unter Dampf, ohne dabei das Tempo zu sehr anzuheben. Der Energieschub wird besonders durch den dominant mit dem Daumen angeschlagenen Slap-Bass erreicht, der nach Bands wie Level 42 klingt. Aber auch die scharfen Bläser und der engagierte Gesang von Miki Howard nehmen dem Stück etwas die ursprüngliche Süße, was dem Lied gut tut.
Noch mehr Einfluss als Toto hatten offensichtlich die (späten) Doobie Brothers auf Soul- und Funk-Künstler. Drei ihrer Songs gaben hier die Vorlagen zu mondän-lässigen Neufassungen. Die Tracks sind aus der Phase, als Michael McDonald Tom Johnston als Lead-Sänger ablöste und sich die Band vom Country-Rock entfernte. Damals wendeten sich einige Westcoast-Sound-Liebhaber aufgrund des weicheren, süßlichen Sounds von der Band ab. Mit etwas Abstand kann der damalige Smooth-Soul und Soft-Rock jedoch durchaus als angenehm und musikalisch hochwertig wahrgenommen werden. Im Laufe der Zeit sind schließlich auch die Arbeiten von Burt Bacharach oder Sergio Mendes enorm in der Gunst gestiegen. Früher galten sie als Verrat an der Hippie-Kultur und der progressiven Pop-Musik.

Der einflussreiche Jazz-Musiker, Produzent, Arrangeur und Komponist Quincy Jones, ohne dessen Beistand die Michael Jackson-Erfolgsalben "Off The Wall" (1979), "Thriller" (1982) und "Bad" (1987) undenkbar wären, hat sich "Takin’ It To The Streets" vom gleichnamigen sechsten Doobie Brothers-Studio-Werk aus 1976 vorgenommen. 
Den rhythmisch aktiven Song überführt Mr. Jones in einen weihevollen Gospel-Rahmen und lässt dazu ein angriffslustiges Saxophon blasen, das aus den "Aja"-Sessions von Steely Dan stammen könnte. Die Aufnahme klingt, als sei sie direkt in einer Südstaaten-Kirche entstanden, so entrückt-religiös hört sie sich an.
Aretha Franklin ist die Göttin des Soul. Unvergleichbar, unerreichbar und bei allem, was sie anstimmt, fokussiert und übermächtig. Packt man sie in ein von elektronischen Instrumenten bestimmtes Arrangement, dann ist es wie mit dem Unterschied zwischen der künstlichen und natürlichen Befruchtung. Mit der künstlichen Befruchtung erreicht man auch sein Ziel, aber die natürliche Variante macht mehr Spaß. So ist es auch hier. "What A Fool Believes" vom achten Doobie Brothers-Album "Minute By Minute" von 1978 
bekommt durch ihre Präsenz Glanz verliehen, verliert aber durch eine sterile Produktion an Tiefe und menschlicher Wärme. Arethas Bemühungen kommen nicht so effektiv rüber, wie sie unter besseren Produktions- und Arrangement-Bedingungen sein könnten. Dennoch passt das Lied gnadenlos gut in den Yacht-Soul-Chic hinein.
Der Soul-Schnulzen-Sänger Peabo Bryson ist in den 1970er Jahren durch seine Duette mit Natalie Cole, Roberta Flack und Melissa Manchester bekannt geworden. Für den Soundtrack des Disney-Films "The Beauty And The Beast" sang er zusammen mit Celine Dion die Titelmelodie. Bryson ist also vornehmlich für sentimental überzogene Lieder zuständig. Der Cocktail-Pop-Flair des Doobies-Song "Minute By Minute" ist eine Steilvorlage für eine gefühlig-swinge Cover-Version.
Und genau das hat Peabo Bryson daraus gemacht.
Michael McDonald und kein Ende. Er schrieb "This Is It" zusammen mit Kenny Loggins und sang 1979 dazu die zweite Stimme. 
Der Song bekam 1981 einen Grammy in der Kategorie "Best Male Pop Vocal Performance" und wurde bereits 1980 von der R&B-Sängerin Millie Jackson neu aufgenommen. Sie zitiert zunächst fast 4 Minuten lang ein Szenario, in dem die Situation der arbeitenden Frau und des arbeitslosen Mannes aus Sicht der Frau dargelegt wird. In einem Call & Response-Verhältnis erwidert ein weiblicher Chor bei jedem dargelegten Fakt "This Is It", als würde Millie als Reverend bei einer Predigt zugestimmt werden. Erst danach steigt die Soul-Diva mit ihrem kräftig-ausdrucksstarken Gesang in den siebeneinhalbminütigen Titel ein. Sie betätigt sich dabei sowohl als ausgleichende Chanson-Interpretin wie auch als aggressive, lautstark fordernde Soul-Rebellin.
Keine Soft-Rock-Playlist von Format ohne Fleetwood Mac aus der Zeit, als sie keine Blues-Band mehr waren! Aber dieses mal gibt es ausnahmsweise keinen Titel von "Rumours", sondern von "Tango In The Night" aus 1987 zu hören. 
Nämlich "Everywhere", interpretiert von Chaka Khan, der ehemaligen Lead-Sängerin der 1970er Jahre Funk-Band Rufus ("Ain`t Nobody"). Khan`s Interpretation von 1996 arbeitet sowohl die melancholische Komponente des Songs heraus, lässt die Rhythmen aber dennoch auf karibische Weise lässig-cool schwingen. Darüber thront eine Stimme, die sowohl sinnlich wie auch ausgelassen triumphieren kann und keinerlei Schwächen aufweist.
Billy Pauls bekanntester Song ist "Me & Mrs. Jones" aus 1972, der drei Wochen lang die US-Pop-Charts anführte. Hier interpretiert er "Let ‘Em In" von Paul McCartneys Wings aus dem Jahr 1976 vom Album "Wings At The Speed Of Sound". 
Diese Auswahl kommt nicht von ungefähr, denn der Titel war nicht nur Nr. 2 in den UK-Pop-Charts und Nr. 3 in den US-Pop-Charts, sondern auch Nr.1 der Easy Listening-Charts. Wenn das keine Empfehlung für "Too Slow To Disco" ist... Paul McCartney listet in dem einfach strukturierten Pop-Song eine Menge Freunde und Verwandte auf (zum Beispiel seinen Bruder und die Everly Brothers) und möchte sie willkommen heißen. Billy Paul nutzt den Titel, um verstorbenen afroamerikanischen Persönlichkeiten, wie seiner Schwester, Louis Armstrong oder Martin Luther King (dessen Original-Stimme auch zu hören ist) Tribut zu zollen. Billy Paul macht aus dem Track eine Show-Nummer mit Funk-Grundierung, schwelgenden Streichern und dynamisch abgestuftem Gesang.

Nicht jede Interpretation auf "Too Slow To Disco: Yacht Soul - The Cover Versions" ist ein Volltreffer, trotzdem bereitet "Too Slow To Disco: Yacht Soul - The Cover Versions" ein kurzweiliges Hörvergnügen, weil die Auswahl der Stücke logisch einem stimmigen Konzept untergeordnet wurden und untereinander eine Geistesverwandtschaft erkennen lassen. Die Los Angeles-Achse Steely Dan - Toto - Fleetwood Mac - Doobie Brothers funktioniert eben immer noch tadellos als Ideen-Lieferant. Es macht Spaß, dem roten Faden zu folgen und an neue Sound-Erkenntnisse zu gelangen. Bei einer offenen Musikgemeinschaft spielt nämlich die Herkunft der Musik keine Rolle, sondern nur deren Qualität und diesem Fall der Grad ihrer Originalität. "Too Slow To Disco" ist auch deshalb eine interessante Angelegenheit, weil hier die Bedeutung von Anspruch und Unterhaltung neu definiert wird. Das Motto ist nämlich: Gelobt sei, was Spaß macht, wenn es dann auch noch künstlerisch wertvoll ist, umso besser.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Waiting For Louise - Rain Meditation

Jahresbestenliste 2023

Lesestoff: Pop steht Kopf