Too Slow To Disco Neo Presents The Sunset Manifesto (VÖ: 11.12.2020)

 
Gestartet wurde die Serie "Too Slow To Disco" im Jahr 2014 unter dem Slogan: "A Compilation Series Of Late 70s Westcoast Yachtpop You Can Almost Dance To." In Folge eins fanden sich dann solche Interpreten wie The Doobie Brothers, Fleetwood Mac, Chicago oder Nicolette Larson. Sie trugen wohlklingenden, glatten Soft-Rock bei, der nicht aneckte, aber auch nicht zu süßlich war. Perfekte Musik zum Auto fahren, zum Entspannen oder um an der Pool-Bar einen kühlen Drink zu genießen. 

Alle beinharten Westcoast-Sound-Fans, die die Musik der Endsechziger- und frühen siebziger Jahre liebten, rümpften damals nur die Nase über diesen für sie weichgespülten Pop. Sie erkannten die musikalischen Leistungen nicht an, die in perfekten Harmonien, meisterlichen Instrumentalbeiträgen und klaren Lead-Stimmen lagen. Für sie war das Verrat am komplexen, psychedelisch beeinflussten Sound solcher Country-Folk-Pop-Pioniere wie Crosby, Stills & Nash, James Taylor oder Jackson Browne.

Inzwischen hat es neben der Ursprungsidee - von der es bisher drei Folgen gibt - noch weitere Ableger des Konzeptes gegeben: "The Too Slow To Disco Ladies" (Volume 1 + 2), "Too Slow To Disco Brazil (Compiled By Ed Motta)" und "Too Slow To Disco NEO (Vol.1 En France)". Die letztgenannte Sparte wird jetzt mit "The Sunset Manifesto" fortgesetzt.

Wer bisher nur die Beiträge aus der Serie kennen und schätzen gelernt hat, die nicht den Zusatz NEO enthalten haben, der wird sich eventuell mit der neuen Folge schwer tun. Denn diese Zusammenstellung aus sechzehn exklusiven, unveröffentlichten Stücken orientiert sich oft am aktuellen Electronic-Dance-Pop-Geschehen und hat auf den ersten Blick fast gar nichts mit den geschniegelten Hochglanz-Songs aus den 1970er Jahren zu tun. Die aktuellen Tracks kommen manchmal scheinbar unverbindlich daher, so dass sie im Zweifel auch als reine Hintergrundbeschallung taugen würden. Aber hat man das nicht auch über die Easy Listening-Musik der 1960er und 1970er Jahre gesagt? Und heute haben deren Vertreter wie Burt Bacharach, The Carpenters, Sergio Mendes oder Herb Alpert Kultstatus und ihre unaufdringliche, zwingende Professionalität wird in den höchsten Tönen gelobt.

Das könnte in Zukunft vielleicht auch für die Musiker von Poolside gelten, die mit ihrem "I Feel High" (im Vibes4YourSoul Remix) einen hypnotischen Chillout-Track geschaffen haben, der sowohl funky wie auch cool ist. Das Duo gehört zu den Pionieren der "Daytime-Disco"-Bewegung mit Querverweisen zum Westcoast-Sound der 1960er und 1970er Jahre. So verfassten sie z.B. eine Cover-Version von Neil Young`s "Harvest Moon" 
und zum 25sten Todestag von Jerry Garcia erschien mit "Shakedown Street" eine Hommage an The Grateful Dead. 
Das Original des Stückes war schon auf "Too Slow To Disco, Vol. 3" enthalten.
Auch die umtriebigen Holländer Kraak & Smaak - die mit einigen anderen Teilnehmern dieser Zusammenstellung vernetzt sind - überzeugen mit ihrem unterhaltsamen "Hotel Sorriso", in das sie sowohl Elemente alter Krimi-Soundtracks ("Die 2") wie auch R&B-Rhythmik einbauen. Die Macher der "Too Slow To Disco"-Reihe haben auch erkannt, dass man mit brasilianischen Takten wenig falsch machen kann. Entsprechend ist der Brasilectro "Do Beijo" des DJ und Pianisten Yuksek (alias Pierre-Alexandre Busson) hinsichtlich des Akzeptanz-Faktors ein Selbstläufer. Bei "Vulf`s Back Pocket Regroove" von Moods handelt es sich um eine Cover-Version des Stückes "Back Pocket" der Funk-Band Vulfpeck. In dieser Interpretation wird versucht, mit einer gewissen rhythmischen Ähnlichkeit zu "Another One Bites The Dust" von Queen zu punkten. 

Disco, Smooth-Soul und Rap verleihen "Is It True" von Glamour Hammer ein Allerwelts-Gesicht. Der Titel bietet so ziemlich alle Klischees auf, die der Mainstream der Black Music zu bieten hat und biedert sich hemmungslos an, um bei Top-40-Hörern anzukommen. Prep lehnt sich mit dem stampfend-monotonen Rhythmus von "Love Breaks Down" an "I Can`t Stand The Rain" von Ann Peebles an. Dem Song fehlt es jedoch insgesamt an einem gesunden Maß an Raffinesse, Charme und Coolness. 

"Heart And Soul" von Turbotito besitzt einen beinahe schläfrigen Takt, der allerdings für einen hypnotisch-suggestiven Sog sorgt. Das klingt dann in etwa so wie "Blue Monday" von New Order auf Valium. Gekonnt ist eben gekonnt, denn Filip Nikolic, der hinter dem Pseudonym Turbotito steckt, war eine Hälfte von Poolside. Hinter dem Namen Diskobeistet versteckt sich der norwegische Produzent und Multi-Instrumentalist Thor Christian Maast. Er nutzt für "Baner Vei" die eindringliche Kraft der Minimal-Art und sorgt so mit mechanischen und elektronischen Klängen für ein akustisch-psychedelisches Science-Fiction-Abenteuer. "Think About It" vermittelt den Eindruck, als würden Frequenzen aus David Bowies "Let`s Dance" verwendet werden. Die Produkt-Informationen bestätigen das jedoch nicht. Die Satin Jackets schaffen aber hier einen elegant-mondänen Disco-Soft Rock-Hybriden, der durch kühlen, aber dennoch sinnlichen Gesang die richtige Würze erhält.

Funk-Bässe, Dub-Effekte, Chill Out-Gesänge und Philly Soul-Streicher verleihen "... At Any Moment" von Luxxury bei aller Gleichförmigkeit im Rhythmus ein abwechslungsreiches Gesicht. Space-Disco meets Electro-Soul-Pop ist dann die Divise bei "Mistakes" von dem deutschen Musiker Sebastian Stuetz, der sich Final DJs nennt. Seine Remixe wurden unter anderem von Stevie Nicks und Elton John in Anspruch genommen. Der Ablauf von "Mistakes" offenbart einen unterschwelligen Groove, der sich ab dem zweiten Hördurchgang hinterlistig im Gehörgang festsetzt. "Windsurf" von Kimchii und "Take Me Back" von Roosevelt werden von einem sonnig-milden, relaxten Flair getragen, der den Stücken auf den "Café del Mar"-Zusammenstellungen ähnelt. 

Der Synthesizer klingt bei "Imagination" von Knight One - wie sich Billy Burki aus den Niederlanden nennt - nach dem Jazz-Rock-Fusion-Sound der 1980er Jahre. Das hört sich aus heutiger Sicht schon beinahe altertümlich an, passt aber gut als Kontrast zu dem weichen Gesang und dem swingenden Schlagzeug. Das Ergebnis kann stilistisch auch als kultivierter, balladesker Art-Pop durchgehen.

Elektronischer Dream-Pop und Soft-Rock sind die Hauptbestandteile von "4 Step" des Duos Private Agenda aus London und Berlin. Damit bilden sie eine moderne Form des Yacht-Rock an, der die ursprünglichen "Too Slow To Disco"-Zusammenstellungen zierte. Das Gespür für smarte, verschachtelte Melodien und Verwendung punktgenauer Hooklines ist dabei herausragend und macht "4 Step" zu einem Highlight auf dieser Zusammenstellung. Das gilt genauso für James Alexander Bright mit seinem elegant fließenden, durch sirrende elektrische Gitarren auffallenden "Under The Sun". Und somit sorgt der Track für einen anspruchsvollen Abschluss für alle, die eine Fortsetzung des anfänglichen Konzeptes erwartet haben.

"Too Slow To Disco Neo Presents The Sunset Manifesto" ist eine uneinheitliche Werkschau eines Sub-Genres, das sich leicht zwischen alle Stühle setzen kann. Je nach Erwartungshaltung oder musikalischer Sozialisierung werden Stücke dabei sein, die beim ersten Hören auf Ablehnung stoßen werden. Wer verfügt schon über so ein breites Spektrum, das sowohl Soft-Rock wie auch Electronische Dance Music umfasst? Aber genau darin liegt auch die Stärke der Song-Auswahl: Wer möchte, kann seinen Horizont erweitern und lernen, dass es auch in bisher nicht wahrgenommenen oder abgelehnten Bereichen gute Musik geben kann. Es ist zwar nicht alles Gold, was hier zu glänzen versucht, aber ein paar Edelsteine sind auch darunter. 


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