Nick Mulvey - New Mythology

Auf der Sinnsuche: Nick Mulvey definiert aus seiner persönlichen, geläuterten Sicht für "New Mythology" den Umgang der Menschen untereinander und mit der Natur. 
Der Londoner Singer-Songwriter Nick Mulvey ist von der Ausbildung her ein studierter Klangkonstrukteur, der erste Erfolge beim von ihm mitgegründeten Portico Quartett erzielte. Das ist ein Avantgarde-Ensemble, dem Mulvey von 2005 bis 2011 angehörte, wo er eine Art Steeldrum, das sogenannte Hang, spielte. Durch seine musikalischen Erfahrungen in Havana (Kuba) und sein Musik-Studium in Großbritannien bekam er Zugang zu unterschiedlichen ethnologischen Klängen, die er gerne in seinen Kompositionen unterbringt und so Rhythmus und Melodie in einen verwirbelten, eingängig-anspruchsvollen Einklang bringt.

"New Mythology" erscheint nach fünf Jahren Veröffentlichungspause und man spürt, dass sich Vieles im Leben von Nick Mulvey ereignet und aufgestaut hat, das jetzt raus muss: "A Prayer Of My Own" zeigt den Kampf gegen die eigenen Unzulänglichkeiten und stellt die ultimative Frage: "Wie kann man das Unerträgliche ertragen?", also wie kommt man zum Beispiel mit sich selbst ins Reine und wächst an seinen Fehlern? Die Motivation an sich zu arbeiten, zieht Nick Mulvey unter anderem daraus, dass er Kinder hat, denen er ein guter Vater sein will.
 
Mulvey ist ein Geschichtenerzähler, der sich bei seiner Arbeit nicht sklavisch am klassischen Folk-Genre festhält, sondern er sorgt bei seinen Kompositionen für Luft und Licht und gibt ihnen die Möglichkeit, sich in alle Richtungen ausdehnen zu dürfen. 

Das an die eigene Person gerichtete Gebet "A Prayer Of My Own" bekommt seine Dringlichkeit nicht nur durch die schonungslos offenen, anklagenden Bekenntnisse, sondern auch über die suggestive Musik verliehen: Die akustische Gitarre erzeugt ein hypnotisches Mantra, Stimmen verbreiten eine spirituell gefärbte Stimmung und ein zurückhaltend gespieltes Piano lässt zärtliche Momente entstehen, die von übersinnlichen Schwebetönen durchzogen werden. Zusammen mit dem aufgeräumt-geläuterten Lead-Gesang des Lied-Schöpfers und dem luftig-beschwingten Schlagzeug ergibt sich eine ergreifende Hymne, die sich stetig dynamisch steigert.
"Star Nation" hinterlässt einen verträumt-halluzinogenen Eindruck, steht aber gesanglich fest mit beiden Beinen auf dem Boden. Textlich bleiben einige Bedeutungen im Dunklen, daneben gibt es allerdings noch einen eindeutigen Aufruf, endlich zu leben, zu heilen und zu dienen, der in dieser Form missionarisch rüberkommt. Musikalisch handelt es sich bei dem ausgeruhten Track um einen Hippie-Folk mit Pop-Melodik und Sinn für metaphysische Gedankenspiele.
Der Song "Mecca" steht als Sinnbild für einen Sehnsuchtsort, der die Beziehung zwischen Pilger und Schrein definiert. Der Schrein scheint dabei auch ein Symbol für die Konzentration auf das Wesentliche und für die Befreiung von Angst und Begierde zu sein. Das Streben nach einem Zustand totaler Kontrolle über Körper und Geist ist die Erfüllung dieser Weltanschauung, um frei denken und fühlen zu können. Das Lied hat somit zunächst nichts mit einer bestimmten Religion zu tun, sondern lebt von seiner übergeordneten Symbolik. Die Musik bewegt sich als adäquater Begleiter auf verschlungenen mystischen Pfaden, bedient aber auch den Wunsch nach eingängigen Motiven.
Karibisch anmutende Rhythmen machen aus "Brother To You", das ein kompliziertes Verhältnis zum Thema hat, eine diffizil swingende Weltmusik mit unaufdringlichen Ohrwurm-Qualitäten. Stimulierende Polyrhythmik, lebensbejahender Gesang und ein eingängiger Refrain bauen selbstbewusst ein schlüssiges Konzept auf, so dass der entspannte Song nicht so schnell vergessen werden kann.
 
Die Noten von "Shores Of Mona" sind von Zärtlichkeit durchzogen. Nick Mulvey erweist sich als hyper-sensibler Troubadour, der eine Ruhe ausstrahlt, die wie eine Anti-Stress-Therapie wirkt. Der akustische Dream-Folk, der einen barocken Anstrich erhalten hat, wird in der zweiten Hälfte noch wirkungsvoll durch wolkige Synthesizer-Schwaden samtig aufgefüllt, was ihm zusätzliche Tiefe verleiht.
"The Gift" entführt rhythmisch auf den afrikanischen Kontinent. Die Takte verströmen sowohl Schwüle wie auch Coolness, wobei sich die Stimmung als verhalten positiv charakterisieren lässt. Akustische und elektronische Töne geben sich die Klinke in die Hand, Tradition und Moderne begegnen sich dabei auf Augenhöhe.
Die Exotik von "Sea Inside (Third Way)" ist geographisch nicht eindeutig zuordenbar, zeigt sich sowohl beschwörend wie auch lebhaft und zeugt davon, wie international verständlich die Sprache der Musik ist.
Der Groove-betonte Country-Folk von "Causes" transportiert Sehnsüchte und Hoffnungen, die sich in das lässige Sound-Bild unkompliziert einfügen. Americana trifft parallel auf Soul, so dass sich weltliche und religiös motivierte Schwingungen begegnen.
Das hypnotisch-monotone "Another Way To Be" tritt melodisch auf der Stelle, punktet dafür beim Thema Minimal-Art-Folk. Gleichförmigkeit ist hier das Mittel der Wahl, um eine suggestive Wirkung zu erzielen.
"Mona" entpuppt sich als ein optimistisches Gegenstück des Liedes "Shores Of Mona" und setzt dabei auf die belebende Wirkung von sich wiederholenden Abzählreim-Refrains und auf ein straffes Takt-Gefühl.
"Interbeing Part 1" ist ein kurzes Intermezzo, das mit Grillenzirpen unterlegt ist. Da kommt Lagerfeuerromantik auf. Das Wort "Interbeing", also das Zwischenmenschliche, fasst zusammen, um was es bei "New Mythology" geht, sagt Mulvey. Deshalb sind diese improvisiert wirkende Tonfolgen wohl der innere Ausdruck dessen, was der Musiker unter Verbundenheit versteht.
Die Großmutter von Nick Mulvey hieß Mary, so wie auch seine Schwester. "Begin Again (Love You Just The Same)" berichtet unter anderem von der unsichtbaren Verbindung zwischen Nick und seiner Oma. Er hat sie nie kennen gelernt, fühlt sich ihr aber verbunden, weil sie in Erzählungen warmherzig, bescheiden und gütig beschrieben wurde. Und dann steht da noch der Wunsch nach einer zweiten Chance bei einer Beziehung im Raum. Bei aller Unterschiedlichkeit zwischen den Individuen ist es die nicht erloschene Liebe, die die Fackel der Hoffnung am Glimmen hält.

Die Liebe ist der Zündstoff, aus dem die hier versammelten "neuen Mythologien" entstanden sind. Es sind existentielle, brennende Fragen, die Nick Mulvey antreiben. Bei diesen Betrachtungen fließen reale Probleme und spirituelle Beziehungen zusammen. Die zu diesen aufwühlenden Gedanken einfühlsam entworfene Musik trägt melancholische Züge. Sie wird einfallsreich, transparent oder auch atmosphärisch dicht interpretiert.
Die Songs entstanden in den letzten fünf Jahren aus vielerlei Erfahrungen heraus. Da sind zum Beispiel der Umzug von Großbritannien nach Ibiza und die Rückkehr auf die Mittelmeer-Insel, die Rolle als Vater, die Zukunftsängste hinsichtlich des Klimawandels und die einschränkenden Umstände durch die Pandemie zu nennen. Das alles hat deutliche Spuren im Denken und Fühlen hinterlassen, so dass das erste Werk nach "Wake Up Now" aus 2017 einen Künstler präsentiert, der seinen Status in der Welt neu definiert und diese Herausforderung mit der Hingabe eines sensiblen und aufgeschlossenen Musikers angeht. Er lässt uns mit seinem dritten Album "New Mythology" an diesem Findungs-Prozess teilhaben, der ihn in ständiger Bewegung zeigt. So sind für das aktuelle Werk die Songs "Begin Again" und "Third Way" von der "Begin Again EP" aus 2020 nochmal einer kompletten Überarbeitung unterzogen worden. Die Ergebnisse des Forschungsdrangs sind spannend, berührend, lehrreich und manchmal auch aus der Sicht des unbeteiligten Dritten etwas verworren.  

"Das Album handelt von Erdung, von diesem Planeten, meinem Leben. Es geht um spirituelle Ideen und darum, sie zu nutzen", erklärt Nick Mulvey seine Gedankengänge und seine textlichen Inspirationen. Die erzeugten Klänge sind stets reiz- und sinnvoll, voller Empathie und bemerkenswerter Ideen. Danke für die Einladung zu diesen persönlichen Einblicken, Nick Mulvey. Es war mir ein erbaulich-sinnliches Vergnügen.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Waiting For Louise - Rain Meditation

Jahresbestenliste 2023

Lesestoff: Pop steht Kopf