Jochen Distelmeyer - Gefühlte Wahrheiten

"Gefühlte Wahrheiten" sind sympathischer als dogmatisch verkündete Weltanschauungen: Jochen Distelmeyer gibt der Liebe eine Chance.

Es war der 31. Mai 2018, ein warmer Frühlingstag, da traten Blumfeld im Bremer TOWER-Club auf. Es sollte ein denkwürdiger Konzert-Abend werden. Ich erwartete eine eher akustisch geprägte Singer-Songwriter-Show, bekam aber ein saftig fetzendes, mega-intensives, von wilden elektrischen Gitarren getriebenes Rock-Konzert vom Feinsten geboten. Blumfeld spielten 12 Stücke und kamen danach noch vier Mal für Zugaben zurück, so dass insgesamt 19 Tracks mit einem enormen Spannungsbogen geboten wurden. Bis heute hoffe ich auf einen Tonträger von diesem Ereignis oder zumindest von dieser Tournee.
"Gefühlte Wahrheiten" ist da aus ganz anderem Holz geschnitzt. Das dritte Solo-Album vom Blumfeld-Chef Jochen Distelmeyer setzt da an, wo die Gruppe 2006 mit "Verbotene Früchte" aufgehört hatte und Distelmeyer mit "Heavy" im Jahr 2009 sowie mit dem auf Englisch gesungenen Cover-Versionen-Album "Songs From The Bottom Vol. 1" aus 2016 ansetzte. Das bedeutet, es ist gefühlsbetonter Singer-Songwriter-Stoff, verschachtelter Folk-Jazz, elegant-geschmeidiger Soft-Rock und dynamischer Pop im akustischen und elektronischen Gewand zu erwarten. Jochen Distelmeyer ist ein aufmerksamer, kluger Geschichtenerzähler, der seine Aussagen in Gesprächs-Monologe kleidet, die er um Selbsterkenntnisse ("Gefühlte Wahrheiten") erweitert.
 
Der Auftakt "Komm (So nah wie du kannst)" verbreitet einen cremigen, kultivierten Easy-Listening-Sound mit einer hypnotischen und einer schwärmerischen Komponente, die den Eindruck der verzehrenden Liebe, die textlich geschildert wird, noch akustisch verstärkt. 
Bei "Zurück zu mir" ist der Liebes-Zauber verflogen und der Protagonist wird so hart von der Realität getroffen, dass er sich jetzt nur noch auf sich selbst besinnen will, weil ihm zu allem Überfluss der katastrophale Zustand der Welt den Rest gibt. Der geschmeidige Pop-Klang täuscht darüber hinweg, welch bedrohliche Lage hinter den Beschreibungen steckt. Aber da die Hoffnung zuletzt stirbt, schwelgt der Titel trotzdem in versöhnlich-salbungsvollen Noten.
Der sanft-melancholische Soft-Rock von "Hey Dear" lebt von seinem hintergründigen hypnotischen Groove, der sich still und heimlich einschleicht und dann das Wohlfühlzentrum des Gehirns ausfüllt. Die geschilderte Beziehung taumelt zwischen aufkommenden Zweifeln und heftigem Begehren - mit ungewissem Ausgang. 
Diese Gefühlsregungen stehen auch im Mittelpunkt von "Im Fieber". Das ist ein leichtfüßiger Song, der zielstrebig Melodie und Refrain miteinander vereint, wobei der unangestrengte Rhythmus dafür als Bindemittel dient.
"Tanz mit mir" erinnert an den perfekt produzierten, eleganten Synthie-Pop von Scritti Politti aus den 1980er Jahren. Anmut und elektronische Instrumente stellten damals keine Gegensätze dar und tun es auch nicht bei diesem ausgeklügelten Smooth-Soul. Die langsame, sehnsüchtig schmachtende Westcoast-Folk-Ballade "Nur der Mond" geht danach tüchtig zu Herzen, klingt schön altmodisch und beinhaltet sogar ein völlig aus der Mode gekommenes, ausschweifendes E-Gitarren-Solo.
Es folgen drei Lieder in englischer Sprache, bei denen es sich im Gegensatz zu "Songs From The Bottom Vol. 1" nicht um Fremd-, sondern um Eigenkompositionen handelt. Sie stammen von einem Country-Mixtape mit dem Namen "Songs From The Dark Age". Klassischer Country ist die Heimat von Schuld und Sühne, von zerbrochener und unerfüllter Liebe. Genau davon erzählen die Songs "Gone Girl", 
"The Reason" 
und "Roads Of Regret".
Ich hätte mir statt dieser Auswahl eine Bonus-CD mit dem gesamten Country-Opus gewünscht. Außerdem wäre eine Ausgliederung der englischen Titel wahrscheinlich angenehmer im Hinblick eines stimmigen Ablaufs gewesen. So wirkt es, als hätte man aus Versehen den Sender gewechselt. Was nicht die Qualität der authentisch vorgetragenen Tracks schmälert, deren bittere Süße ihre betörend-innige Wirkung nicht verfehlt.

Der Begriff Liedermacher wird heutzutage nur noch mit Sängern aus den 1960er und 1970er Jahren in Verbindung gebracht. "Manchmal" lässt dieses poetisch-nachdenkliche, teils politisch motivierte, teils den Alltag reflektierende Genre wieder aufleben und ist irgendwo zwischen Reinhard Mey und Hans-Dieter Hüsch einzuordnen.
Mit dem elfeinhalb minütigen Slow-Blues "Nicht einsam genug" greift Distelmeyer den epischen Talking-Folk-Stil vom Stück "Jenseits von Jedem" (2003) auf, der wiederum von Bob Dylan`s "Desolation Row" (von "Highway 61 Revisited" aus 1965) inspiriert war. Der Song ist ein Musterbeispiel an Coolness, Wortwitz und hypnotischer Melodieführung. Er fasziniert vom Anfang bis zum Ende und zeigt die kompositorische Brillanz des Hamburger Musikers. Großartig!
"Ich sing für dich" ist ein Mut machender Track, der durch seine aufrichtige Anteilnahme zu Tränen rührt, weil es auf Menschen aufmerksam macht, die nicht unbedingt vom Glück gesegnet wurden. Der bedächtige Country-Folk transportiert die konstruktive Melancholie fabelhaft, so dass der Spannungsbogen über die ganzen fünfeinhalb Minuten erhalten und die Aufmerksamkeit ungebrochen bleibt.

"Gefühlte Wahrheiten" ist nicht das berüchtigte schwierige dritte Album geworden, dazu verfügt der 54jährige Musiker und Romanautor ("Otis") über zu viel Erfahrung, um in solch eine Identitätsfalle zu stolpern. Das neue Werk führt vielmehr bewährte Ausdrucksformen fort und profitiert vom Gespür für attraktive Text- und Melodie-Ideen seines Schöpfers und seinem geschmeidigen Umgang mit der deutschen Sprache. Also alles wie erwartet und erhofft?

Jetzt mag kritisiert werden, dass sich die Themen hauptsächlich um Liebesbeziehungen in der glühenden, romantischen, zweifelnden oder verglühenden Phase drehen und weniger ums Zeitgeschehen. Aber vielleicht ist es in dieser unruhigen Zeit sinnvoller, Lieder mit wichtigen zwischenmenschlichen Aspekten zu füllen, als mit irgendwelchen halbgaren politischen Aussagen. "Gefühlte Wahrheiten" ist aber alles andere als unkritisch, denn das Anprangern von Missständen wird konkret ("Nicht einsam genug", "Ich sing für dich") oder mitunter versteckt in die analytisch-kritischen Beziehungsgeschichten eingeflochten ("Zurück zu mir").

Dann könnte vielleicht kritisiert werden, dass Distelmeyer zu sehr nach Distelmeyer klingt und es kaum musikalische Entwicklungen zu verzeichnen gibt. Aber genau das macht das Besondere der Platte aus, ihre beständige Zuverlässigkeit. Schließlich nimmt ja auch niemand Anstoß daran, wenn Bruce Springsteen einen hohen Wiedererkennungswert beweist oder Neil Young seine bewährten akustischen oder elektrischen Stücke nur wenig variiert. 

Distelmeyer hat einen unverwechselbaren Stil entwickelt, der sich durch glaubwürdige, intelligente Texte und geschmackvolle Exkursionen durch Pop, Soul, Rock, Blues oder Folk auszeichnet. Er ist ein sensibler Poet und ein wacher Beobachter. Hohle Phrasen dreschen ist nicht sein Ding. Der charmant-flüssige Gesang destilliert den lyrischen Aspekt aus der manchmal sperrig wirkenden deutschen Sprache und veredelt ihn hymnisch. 

Der verlässliche, traumwandlerisch sichere Sound von Jochen Distelmeyer schafft Vertrauen und beglückt. Genau wie die Texte, die Halt und Kraft geben sowie Verständnis und Erkenntnisse vermitteln. "Gefühlte Wahrheiten" enthält zwar in erster Linie Beziehungs-Lieder, die sich romantisch oder realistisch mit vielen Facetten von Partnerschafts-Angelegenheiten beschäftigen. Das geschieht aber so unverstellt wie möglich, so nahe am wirklichen Leben, wie es auszuhalten ist und so mitfühlend, dass der Liebe auch nach einer großen Enttäuschung noch (mindestens) eine zweite Chance eingeräumt wird. Und was ist in Krisenzeiten wichtiger als den Geist der Liebe zu beschwören? "All You Need Is Love".

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