Thomas Dybdahl - Teenage Astronauts

"Ruhe zieht das Leben an, Unruhe verscheucht es" (Gottfried Keller, Schweizer Dichter, 1819 bis 1890).

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CD-Cover

Wenn man nachts in den sternenklaren Himmel schaut, dann überträgt sich die Unfassbarkeit des Universums zwangsläufig als Ehrfurcht vor der Unendlichkeit und das Mysterium des Daseins macht demütig. Es tritt ein Moment des Besinnens auf die eigene Rolle im Weltgefüge ein, der zur gedankenversunkenen Ruhe führen kann. Aus der Stille des Weltraums tritt das Wunder des Lebens hervor, das sich unter schwierigen Bedingungen gegen viele Bedrohungen durchsetzen kann. Der Mensch erlangt durch innere Ausgeglichenheit geistige Klarheit und bekommt dadurch die Möglichkeit, die Auswahl seiner Handlungsalternativen zu optimieren. 

Die Beschäftigung mit der eigenen Psyche sowie mit der Verbindung zur Natur und dem Weltall prägt das eindringliche Werk "Teenage Astronauts". Es vermittelt eine meditative Stimmung, die den Weltraum als Wiege des Lebens musikalisch reflektiert und nach Eintracht mit dem persönlichen Handeln und dem Lauf der Gestirne sucht. Die Aussage der Poesie beruht jedoch nicht unbedingt auf Science-Fiction-Themen, sondern behandelt im engeren Sinne ganz irdisch die relative Sorglosigkeit, die der Jugendzeit ihre spezielle Kraft verleiht. "Als junger Mensch fühlt man sich unsterblich, als wäre alles möglich. Deshalb wollte ich dieses Mal ein großes Streichorchester einbeziehen, dieses Gefühl einfangen und uns ins All schicken". So erklärt der norwegische Multiinstrumentalist, Sänger und Komponist Thomas Dybdahl die Hintergründe seiner Sound-Kreationen. Außerdem geht es in den Texten noch um den unersetzlichen Wert und die etwaige Vergänglichkeit von Freundschaften.

Die Platte bekommt durch den einfühlsamen Gesang von Thomas Dybdahl, der auch Gitarren, Keyboards und Percussion bedient, seine ruhevolle Form verliehen. Der Produzent Larry Klein (Joni Mitchell, Madeleine Peyroux, Melody Gardot) ergänzt die instrumentelle Basis und das Stavanger Symphony Orchestra füllt den Raum mit ausschweifenden und behaglichen Tönen. 

Die Musiker lassen für den Song "Teenage Astronauts" die Himmelskörper akustisch glitzern und blinken. Zerbrechlichkeit, Intimität und pure Schönheit füllen die Noten. Das fühlt sich manchmal leicht verwaschen an. So wie der Blick auf die Spiegelung eines blauen Sommerhimmels in klarem Wasser, was einer hypnotischen Wirkung entspricht. Chorstimmen ahmen einen dynamischen Wellengang nach und fangen die sich kräuselnden Wogen liebevoll auf. Streichinstrumentenklänge glätten danach sanft die verwirbelte Wasseroberfläche. Die organisch-natürliche, kosmische Strahlkraft der Komposition wirkt sowohl beruhigend als auch belebend, sodass eine mehrdimensionale Projektionsfläche erschaffen wird.

"Graffiti Boy" baut seine Ausdrucksstärke auf Folk-Wurzeln auf, die als exotische Triebe in den Himmel wachsen und berauschend prächtige Blüten austreiben. Eine nachempfundene barocke Romantik kommt dabei auch nicht zu kurz. Selbst künstlich erzeugte Naturschauspiele, wie plätschernd-gurgelnde Gebirgsbäche, werden Sound-malerisch nachempfunden.

Schmachtend-sehnsuchtsvoll bekennt sich "All For A Girl" zu überwältigendem, kunstvollem Kitsch, woraus ein zum Dahinschmelzen ergreifendes Epos entsteht.

Und es bleibt schillernd: Mit sphärischem Ambient-Americana-Sound bewegt sich "Beautiful Boy" oszillierend im Spannungsfeld zwischen emotionalen Tiefen und interstellaren Unendlichkeits-Fantasien.

Beim Zwischenspiel "All For A Girl (String Reprise)" flackern kurz - von knisternden Sendersuchlauf-Tönen oder atmosphärischen Störungen begleitet - sentimentale Gefühle auf.

Die Songs "There's No One Else On Earth" und 
"Sea Turtles" können für sich in Anspruch nehmen, eine Form von rauschhafter, globaler Weltmusik zu präsentieren, die von akustischen und elektronischen Tönen gespeist wird, welche sich gegenseitig zur Erreichung eines harmonisch-anregenden Ergebnisses herausfordern und ergänzen.


"Rocket Ship" ist eine von moderner Klassik durchzogene Ballade, die sich bei der schwärmerischen Wirkungsweise dramatischer Hollywood-Produktionen bedient und vor intimer Sensibilität überläuft.

Der Kreis schließt sich mit dem instrumentalen "Teenage Astronauts (String Reprise)", das sich nebst galaktischen Hintergrundgeräuschen auf den Eröffnungstrack bezieht und das Konzept aus Art-Folk- und Space-Sounds komplettiert.


Diese Musik, die zur Orientierung als Ambient-Art-Folk bezeichnet werden soll, eignet sich wegen ihrer unaufdringlichen Nahbarkeit als Begleiter in vielen Lebenslagen. Sogar als Beschallung beim Outdoor-Sport oder eventuell als stimmungsvolle Begleitung von feierlichen Trauerfeiern kann sie eingesetzt werden, da sie trotz ihrer melancholischen Ausrichtung einen tröstenden, mitfühlenden Charakter aufweist.

Das Stavanger Symphony Orchestra, welches vom Komponisten Vince Mendoza effektvoll und songdienlich arrangiert wurde, trägt Dybdahl auf Wolken oder auf leichten Wellen, die durchaus plötzlich ein wenig höher ausfallen können, als erwartet. Das Ensemble agiert in jeder Lage sehr einfühlsam, nahezu dezent und setzt trotzdem differenzierte und bedeutende Akzente. 

Dybdahl rundet seine sanftmütigen Gesangsdarbietungen über das gesamte Album hinweg stets zartfühlend ab, sodass die Noten durch sein Timbre eine verführerische Süße erhalten. Das erinnert zuweilen an den Art-Pop-Künstler und Tim Bowness, dessen kunstvolle Arbeiten durch seine lieblich-sinnliche Stimme auch eine unterschwellige erotische Ausstrahlung bekommen können. 

Die Platte ist unter anderem eine Empfehlung für Menschen, die sich von David Sylvian mal wieder ein Song-orientiertes Album wünschen. Und das nicht nur wegen der gelegentlichen, asiatisch anmutenden Klang-Einwürfe, sondern auch wegen der intimen, gelassen-souveränen Atmosphäre.

Mit 32 Minuten Laufzeit ist Dybdahls zehntes Solo-Album viel zu schnell vorbei. Es dürfte gut und gerne bei gleichbleibender Qualität doppelt so lang sein. Aber trotzdem ist das Werk vollständig und vollwertig. Und schließlich gibt es ja eine Repeat-Funktion, sodass die inspirierende, vorzüglich gestaltete Klang-Reise jederzeit neu angestoßen werden kann. Die Ruhe von "Teenage Astronauts" zieht tatsächlich das Leben an, so wie es Gottfried Keller ausgedrückt hat. Deshalb geht von der Musik beinahe eine therapeutische Wirkung für geschundene Seelen aus. Einfach ausprobieren, es lohnt sich!

Übrigens: Thomas Dybdahl erreicht mit seinen Platten in seinem Heimatland Norwegen hohe Charts-Platzierungen. Er ist dort also mit seiner anspruchsvollen Musik im Mainstream angekommen. Und bei uns? Solch eine Situation scheint in Deutschland undenkbar zu sein.

Kommentare

  1. Klasse Rezession + Album! Danke Heino - VG Tobias

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  2. Hallo Tobias!
    Vielen Dank für Dein Lob!
    Lasse es Dir gut gehen und genieße weiterhin die Anregungen von "Lost & Found: Musik ohne Grenzen".

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