Faye Webster - Underdressed At The Symphony

Sensibilität, Kreativität und Individualität: Faye Webster kann mit "Underdressed At The Symphony" auf der ganzen Linie überzeugen. 

Bei offiziellen Angelegenheiten nicht angemessen gekleidet zu sein, kann peinlich berühren oder sogar ein Gefühl der Ausgrenzung aufkommen lassen. Ein Dress-Code wird nämlich für eine definierte Menge an Menschen das Zusammengehörigkeitsgefühl stärken, für ein Individuum, das sich nicht daran hält, mag es aber Isolation bedeuten.

Für Faye Webster ist der spontane Besuch des Atlanta Symphony Orchestra eine Herzensangelegenheit, um in Gemeinschaft Kultur genießen zu können. Diese Vorhaben können durchaus mit einer unpassenden Kleidung einhergehen. Die anstehende Dunkelheit beim Konzert erlaubt es dann, in eine Anonymität abzutauchen, in der alle Anwesenden wieder gleich erscheinen. Was bleibt, sind gemischte Gefühle, die sich auch bei "Underdressed At The Symphony" ausbreiten.

 
Die 1997 in Atlanta, Georgia, geborene Künstlerin ist dem sehnsüchtigen Klang der Pedal-Steel-Gitarre verfallen, die auch aktuell wieder zum Tragen kommt, wenn auch nicht so exzessiv wie auf den vorhergehenden Alben "Atlanta Millionaires Club" (2019) und "I Know I`m Funny Haha" (2021). Eigentlich wird mit diesem Instrument Country-Musik assoziiert. Bei Faye Webster ergibt sich jedoch eine andere Wahrnehmung, weil sich die Songs aufgrund ihrer speziellen Struktur keinem Genre direkt zuordnen lassen. Und da sind wir auch schon bei der Besonderheit des fünften Albums der reizvollen Singer-Songwriterin. Es ist das bisher betörendste und gleichzeitig wagemutigste in der Karriere der engagierten Musikerin geworden. Jeder Song hat eine spezielle, Stil-sprengende Ausprägung erhalten und grenzt sich auf eigentümliche Weise deutlich von dem vorherigen ab. Dennoch tragen alle Lieder die eindeutige Handschrift von Faye, die längst ihre unverwechselbaren Wiedererkennungsmerkmale gefunden und gefestigt hat. 

Die Songs für "Underdressed At The Symphony" wurden live eingespielt. Was gleich beim Opener "Thinking About You" auffällt, da man in das Lied sanft hineinstolpert wie bei einer lockeren Jam-Session. Bass, E-Gitarren, Piano und Schlagzeug leisten sich einen Wettkampf in der Disziplin um den coolsten und gleichzeitig ausdrucksstärksten Instrumenteneinsatz. Das Ergebnis geht unentschieden aus, denn alle vier Teilnehmer zapfen sowohl organische Jazz-Lässigkeit als auch cremige Soft-Rock-Eleganz zum Wohle der Song-Substanz so raffiniert an, dass das gesamte Klang-Konstrukt mehr ergibt als die Summe seiner Ton-Teile. Webster verbindet die einzelnen Schwingungen dabei mit ihrer melancholisch-verletzlichen Stimme zu einem sinnlich-amourösen Chanson, bei dem Wehmut zu einer hinreißend verführerischen Droge destilliert wird.
 
Mit "But Not Kiss" kommen dann unerwartet brüchige Sound-Passagen ins Spiel, deren einzelne akustische Bestandteile mit einem Kontrast aus Harmonie und Zerrissenheit überraschen. Kontroverse Muster, wie Schüchternheit und Übermut stehen sich gleichwertig gegenüber und bremsen oder beschleunigen der Ton-Fluss. Die unterschiedlichen Bestandteile können aber nur gemeinsam bestehen, um dieses spezielle, vor Differenzen bebende Konstrukt entstehen zu lassen. Passend dazu werden inhaltlich gemischte Gefühle, die in einer Beziehung auftreten können, ausgebreitet und beurteilt.
 
Für "Lifetime" wird das Tempo tüchtig zurückgefahren, was zu einer bleiernen Schwere führt, die charmant vorgetragen und süffig ausgestaltet wird. Noten tropfen vereinzelnd klirrend zu Boden, Bässe formieren sich am Firmament zur Ankündigung eines Gewitters, Streicher-Töne und Bläser-Fanfaren beschwichtigen sanft und das Schlagzeug erweist sich als präzises Metronom und als Lücken füllendes Kreativ-Element.
 
Bei "ebay Purchase History" demonstriert die sensible Vortragsart eine faszinierend eindringliche Stärke, denn es erscheint beinahe unmöglich, sich von der beschwörenden Wirkung der Musik zu lösen. Dabei geht es nie laut zu. Zum auffallenden Instrumentarium der weltmusikalisch inspirierten Untermalung gehört sogar eine Flöte - ein Instrument, das allgemein in der Pop-Musik (eventuell aufgrund der schlechten Erfahrungen im Musikunterricht) eher als langweilig und dröge empfunden wird. Hier steigern die Flötentöne aber sogar die Intensität des Tracks.

Das Album klingt mit dem versöhnlichen Lied "Tttttime" aus, das sich mit bekannten Zitaten aus Pop und Country auf eine künstlerisch wertvolle Art und Weise schmückt, sodass sich daraus eine alternative Form eines besänftigend-lockenden Easy-Listening-Sounds ergibt.

Diese sechs über die Platte verteilten Kompositionen verfolgen das Prinzip der kontrollierten Wiederholungen, das zu einer erhöhten Aufmerksamkeit, Einprägung und Intensitätssteigerung führt. Hierbei werden Sequenzen oft, aber nur solange dupliziert, wie sich ihre hypnotische Wirkung steigern lässt, damit der stimulierende Effekt nicht verloren geht.

"Wanna Quit All The Time" verbreitet die Entspanntheit einer karibisch anmutenden, zarten Lounge-Jazz-Stimmung, welche mit sehnsüchtigen Ambient-Country-Ideen garniert wird. Eine freundliche, sommerlich warme Brise durchzieht die Noten und führt zu einem milden Entspannungseffekt, der die Nerven glatt bügelt und dafür sorgt, dass die Seele sorglos baumeln darf. Nach dreieinviertel Minuten wird das Stück komplett ausgeblendet, bekommt zehn Sekunden Pause und startet dann von Neuem und wird instrumental im alten Gewand noch eine Minute fortgesetzt.

"Lego Ring" wurde unter Mithilfe des Rappers Lil Yachty, den Faye schon seit ihren High-School-Zeiten kennt, eingespielt und speist sich aus einem brummend-knurrenden Funk-Bass, der ordentlich Druck aufbaut. Dazu werden zwischendurch Exotica- und Space-Sound-Beiträge zusammen mit natürlichen und verfremdeten Gesangseinlagen verabreicht, sodass der Groove manchmal jäh unterbrochen wird. Dem Hörvergnügen schadet das nicht, denn es entsteht dadurch der Reiz der Reibung, der kontrolliert eingesetzt wird und deshalb kribbelnd wie eine ungefährliche sündige Verfehlung wirkt. "... ich muss nicht immer tiefgründig sein. Ich kann mich auch einfach hinsetzen und über diesen Ring aus Kristall-Lego singen, den ich unbedingt haben möchte", berichtet die Komponistin über ihre Gedanken zur Entstehung des Songs.
 
"He Loves Me Yeah!" erweist sich als ein verbündeter Track von "Lego Ring": Der agile Bass ist auch hier dominant, die Stimmung bleibt dadurch und durch ein klar sprudelndes Piano und ein agiles Schlagzeug jedoch durchgehend belebend-frisch. Power-Pop mit mächtigem Groove, selten, anregend und zur Nachahmung empfohlen!
 
Die künstlich veränderte, von menschlichen Vibrationen abgewandte Stimme zeigt bei der kurzen Ballade "Feeling Good Today" erneut ihre gewöhnungsbedürftige, aber im Endeffekt pikante Seite. Faye wendet bei dem Stück einen Kunstgriff an, um trotz des fremdartigen Gesanges empathisch, aber völlig frei von Sentimentalität über einfache Genüsse berichten zu können. Und wie sich zeigt, kann das auch bedeutend klingen, man denke in diesem Zusammenhang nur an "Perfect Day" von Lou Reed.

Der Song "Underdressed At The Symphony" wurde mit reichlich melancholischer Patina ausgestattet. Die Pedal-Steel-Gitarre breitet einen sehnsüchtig schmachtenden Klangteppich aus, auf dem Faye Webster traumwandlerisch zartfühlend ihre leidenschaftliche stimmliche Sensibilität ausbreitet. Der Track wird daneben mit ergreifenden, Sternschnuppen-artig auftauchenden, unerwarteten Einblendungen gespickt, sodass das Lied nicht in Sentimentalität erstarren muss. Vielmehr blüht Hoffnung und Freude im Verborgenen. Die Zuversicht bahnt sich jedoch dezent, aber unaufhaltsam ihren Weg zur Oberfläche der Noten. Wäre das Stück noch zwei Minuten länger, würde die Atmosphäre wahrscheinlich in pure Freude umschlagen.

Faye Webster macht ausgehend von einem hohen Qualitätsstandard noch einen weiteren Schritt nach vorn. Daraus ergibt sich ein ausnehmend interessantes und schönes Album. Stil-Zwänge werden ausgetrickst, kompositionstechnische Herausforderungen gesucht und emotionale Kontraste gerne wahrgenommen. "Underdressed At The Symphony" hält unterschiedlich ausgeprägte Facetten der psychischen Erregtheit bereit. Die Künstlerin erweist sich als souveräne, originelle Gestalterin mit Herz und Hirn. Ihre Beziehungs-Analysen drehen sich nicht nur um die Gestaltung und die Fallstricke in Zweierbeziehungen, sondern sind immer auch Selbstreflexionen, durch die Erkenntnisgewinne erzielt werden sollen.

Die zehn Lieder von "Underdressed At The Symphony" weisen keinerlei Schwächen auf, wurden geschickt zusammengestellt und inspirieren dazu, sich das Art-Pop-Werk aufgrund seines hohen Suchtfaktors immer wieder in Gänze anzuhören. Faye Webster ist ein ungemein charakterstarkes, scharmantes Werk gelungen, welches lange nachhallt und auch nach etlichen Hördurchgängen immer noch kleine, feine Details freigibt.

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