Beth Gibbons - Lives Outgrown (2024)
„Lives Outgrown“ ist das erste richtige Solo-Album von Beth Gibbons, der Stimme von Portishead.
Das erscheint merkwürdig, weil Beth Gibbons schon vor „Third“, dem letzten Portishead-Studio-Album aus 2008, eine Platte aufgenommen hat, die sie in den Fokus rückte. Nämlich „Out Of Season“, die Zusammenarbeit mit Rustin Man alias Paul Webb (ex-Talk Talk) von 2002. Auch die Einspielung von Henryk Góreckis „Sinfonie Nr. 3“ („Symphonie der traurigen Lieder“), die mit dem Dirigenten Krzysztof Penderecki und mit dem Symphonieorchester des Polnischen Nationalen Rundfunks im Jahr 2014 aufgenommen wurde, belegte sie mit einem besonderen, geheimnisvoll-fragilen Zauber. Beide Werke klangen mehr nach ihr als nach den anderen, sehr talentierten beteiligten Personen.
Mit „Lives Outgrown“ festigt Beth Gibbons - die am 4. Januar 1965 in Exeter, England, geboren wurde - ihr Alleinstellungsmerkmal zwischen Pop, Klassik und Avantgarde, welches sie als ausdrucksstarke Sängerin, gehaltvolle Komponistin und fantasievolle Arrangeurin ausweist. Die dabei entstandene Musik ist ernsthaft, kunstvoll und dabei dennoch höchst unterhaltsam. Sie transportiert geheimnisvolle Stimmungen, mit denen sogar die dunklen Komponenten in David-Lynch-Filmen untermalt werden könnten.
Kunstvoll verschlungene Saiten-Akrobatik lassen "Floating On A Moment" zunächst intellektuell hochfliegend erscheinen. Diese Wahrnehmung löst sich jedoch schnell zugunsten eines bittersüßen Stimmungsbildes auf, das kurz von einem frostig glitzernden Vibraphon und von um Harmonie bemühten Chor-Stimmen eingeleitet wird. Die einnehmende, liebliche Melodie nimmt sofort Besitz vom Wohlfühlzentrum und aktiviert dort in Verbindung mit dem Mitleid erzeugenden Gesang kribbelndes Entzücken. Poetisch verpackt macht der Text bewusst, dass das menschliche Leben nur ein Wimpernschlag im Vergleich zum kosmischen Dasein ausmacht und mahnt, damit bewusst umzugehen.
Und diesen Ratschlag sollte man ernsthaft berücksichtigen, obwohl uns die Last des Lebens nicht in Ruhe lässt, wie es in "Burden Of Life" heißt, und einiges abverlangen kann. Der kammermusikalisch ausgestattete Track erzeugt eine bedrückende Dramatik, die sich bleiern auf die Seele legt und nur bedingt durch die vertraute Stimme von Beth Gibbons aufgehellt wird.
Liebe verändert sich, Dinge verändern sich, die Zeit verändert sich - also verändern sich zwangsläufig auch die Lebensumstände ständig. Dieses "Naturgesetz" liegt "Lost Changes" zugrunde. Das Stück transportiert diesen Gedanken mit einem leichten Schaukeln, was an ein Wiegenlied erinnert. Der Refrain vermittelt milde Zuversicht und die allgemeine Stimmungslage setzt auf die Verbreitung von Besinnlichkeit.
"Rewind" lässt es ein wenig kratzbürstig angehen und klingt außerdem orientalisch angehaucht und eigenwillig ruppig. Dazu trägt auch die auffällige Percussion-Arbeit bei: Scheppernde Becken und wilde Trommelwirbel mischen den sowieso schon wogenden Ablauf noch zusätzlich ordentlich auf.
"Wo ist die Liebe geblieben, wo ist das Gefühl? Wo ist der Glaube an die Worte, die wir atmen?". So lauten die Fragestellungen, die in der Beziehungsproblematik von "Reaching Out" eine große Rolle spielen. Der rhythmische Takt zeigt sich bei dieser belastenden Gefühlslage beschleunigt, manchmal sogar aufgewühlt. Die Hintergrundstimmen tragen eine klagende Färbung bei. Streicher und Bläser proben ab und zu den Aufstand, setzen sich aber nicht generell durch. Zwischendurch gibt es aber auch immer wieder Phasen der Einkehr und des Kraftschöpfens.
Zu Beginn von "Oceans", das als schlicht aufgebauter Folk-Song getarnt ist, ahnt man noch nicht, welch brillante, zu Tränen rührende Melodie und welche hinreißenden Wendungen noch entblättert werden. Die Sätze "Aber ich werde in den Ozean eintauchen. Auf dem Boden werde ich meinen Stolz sammeln. Und ich werde die Länge der Emotionen spüren. Unter der Oberfläche habe ich keine Angst mehr" leiten das Ende des Stückes ein, das zu den betörendsten Kompositionen des an Höhepunkten reichen Albums gehört. Der Gesang von Beth klingt, als würde sie sich vollends und in gutem Glauben in ihr Schicksal fügen.
Die Folklore der Welt hat deutliche Spuren auf "Lives Outgrown" hinterlassen. Bei "For Sale" sind es verwaschene Eindrücke aus Nordafrika, die sich durch exotisch klingende Geigen bemerkbar machen. Sie unterstreichen, dass bei dem Lied die Traurigkeit ein zu Hause gefunden hat.
"Beyond The Sun" beinhaltet eine Aufzählung von Fragen, die mögliche Alternativen oder Richtungsänderungen ansprechen, welche im Lauf des Lebens an persönlichen Meilenstein-Entscheidungen festzumachen sind. Die hierfür entworfene Musik ist grundsätzlich lebhaft und steigert sich allmählich bis knapp davor, eine Ekstase auszulösen. Kurz vom Ende des Stücks fällt der Druck dann wieder ab und die Spannung implodiert.
"Whispering Love" verspricht, ein behutsam ablaufender Track zu werden und hält diese anfängliche Erwartung auch eine Weile aufrecht. Das gilt bis zu dem Zeitpunkt, als Geigen Töne verbreiten, die sich in etwa wie eine quietschende Tür anhören. Trotz dieses deutlichen Störgeräusches behält die Harmonie die Oberhand und der idyllische Song entlässt die Hörerschaft mit einem hoffnungsvollen Gefühl: "Oh, flüsternde Liebe, wehe durch mein Herz, wenn du kannst."
Ganz gleich, in welcher Konstellation Beth Gibbons bisher in Erscheinung getreten ist, sie hat es immer verstanden, ihre Persönlichkeit prägend und überzeugend in die Waagschale zu legen. "Der Entstehungsprozess von "Lives Outgrown" erstreckte sich über mehr als zehn Jahren hinweg. Es war eine Zeit des Abschieds von Familie, Freunden und sogar von dem, der ich vorher war. Die Texte spiegeln meine Ängste und schlaflosen nächtlichen Grübeleien wider, daher der Titel "Lives Outgrown" (der unter anderem mit "Zurückgelassene Leben" übersetzt werden kann). Nicht nur wegen der Art und Weise, wie wir emotionale oder psychologische Übergänge in unserem Leben durchlaufen, sondern mehr im Zusammenhang mit der Zeit, in der wir diesen Planeten verlassen und uns ins Unbekannte bewegen", erläutert Beth die Gegebenheiten, die zu ihrem Werk geführt haben. Beth Gibbons erschafft einen in sich abgeschlossenen Lebensraum, der bei aller Melancholie die Zuversicht nicht aus den Augen verliert.
Ihre Klang-Entwicklung beschreibt sie folgendermaßen: "Der Sound war auch ein Prozess, bei dem ich Strukturen innerhalb meiner persönlichen Möglichkeiten erkundete. Ich wollte weg von Breakbeats und Snares und mich auf das holzige Gewebe der Klangfarben konzentrieren, weg von der süßen Sucht nach hohen Frequenzen, die befriedigen wie Zucker und Salz". Gemeinsam mit James Ford (Mitglied von Simian Mobile Disco und The Last Shadow Puppets) und dem ex-Talk Talk-Schlagzeuger Lee Harris suchte sie deshalb nach Tönen, die von denen eines gewöhnlichen Instrumentariums abweichen. So kam zum Beispiel eine Holzschublade als Trommel zum Einsatz und Dosen, die mit Erbsen gefüllt wurden, dienten als Geräusch-Spender. Mit "Lives Outgrown" wurde auch wegen dieser Experimentierfreude zeitlose, hochwertige Kunst erschaffen, die als ein flexibles, in sich stimmiges Art-Pop-Gefüge daherkommt und hinsichtlich ihrer herausragenden Qualität jede Musik-Sammlung veredelt.
In der ARTE-Mediathek ist ein Konzert von Beth Gibbons im historischen Richelieu-Gebäude der Französischen Nationalbibliothek in Paris aufrufbar:
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