Jessie Monk - Mis O' The Mountain (2025)
Jessie Monk lässt fast vergessene Mythen in der Gegenwart lebendig werden.
Jessie Monk taucht mit ihrem zweiten Album "Mis O' The Mountain" ins Reich der keltischen Mythen und Legenden ab. Sie zeigt sich angeregt von den Berichten über die Göttin Mis, von der es nur wenige und dann noch unterschiedliche Darstellungen gibt. So heißt es an einer Stelle, sie sei so etwas wie die Schutzgöttin des Wassers gewesen, und dann wird erzählt, sie habe sich nach dem Tod ihres Vaters in eine wilde Bestie verwandelt. Dieser Aspekt führte bei Jessie Monk zu den Themen Verlust, Wiedergeburt und Identitätsfindung.
Die in Kanada geborene Künstlerin wuchs in Australien mit Verbindung zu den Aborigines auf. Aus dieser Zeit stammt wohl ihr Interesse und Verständnis für spirituelle Zusammenhänge. Später war sie beruflich als Tänzerin und Musical-Darstellerin (unter anderem in der "Lazarus"-Aufführung von David Bowie) tätig, bevor sie 2020 nach Berlin zog und der eigenen musikalischen Karriere den Vorzug gab. 2021 erschien dann die EP "Here, Now" und 2023 das erste Album unter dem Namen "Continually Becoming".Der knapp einminütige, instrumentale, freigeistig tänzelnde Epilog "The Dream" lässt dann auch unterschiedliche Assoziationen zu. Zum Beispiel Wasser, das sprudelnd und gurgelnd durch einen Gebirgsbach fließt, unruhige, aufwühlende Träume oder lebhafte, nicht verarbeitete Erinnerungen.
Für "I Was An Eagle" jubiliert und tiriliert Jessie Monk wie einst Joni Mitchell in ihrer Jugend, und der Song zeugt genau wie die Mitchell-Lieder von außergewöhnlich origineller Kompositions- und Gestaltungstechnik. Eine klagende Geige übernimmt die Stimmungsbildung, die Percussion rührt im Hintergrund unruhig herum und eine um Friedfertigkeit bemühte Klarinette glättet die Wogen. Es herrscht konstruktive Melancholie.
"I Agree" benutzt Bossa-Nova-Inhaltsstoffe, um einen Mix aus Empathie und Lebensfreude herzustellen. Die irische Pfeife steht dabei für Bodenständigkeit und der beschwingte Rhythmus für eine intellektuelle und körperlich-bewegliche Sichtweise. Die Poesie wurde von Rainer Maria Rilke inspiriert und beschäftigt sich mit großen Fragen der menschlichen Existenz.
Bei "Gold Flowers" gibt es gesangliche Eigenarten, die sich genau wie die Minimal-Art-Kunststücke von Steve Reichs "Music For 18 Musicians" anhören. Das scheint eine eindeutige Hommage an die hypnotischen Fähigkeiten des visionären Komponisten aus New York zu sein. Diese Reminiszenz sorgt für unwirklich klingende Albtraum-Sounds, aber auch für Elektrisierung, Eifer und Aufruhr. Wie gut, dass es Künstlerinnen gibt, die sich in der Musik-Geschichte auskennen und solche Anregungen kreativ umdeuten können!
Kurz, hart und spitz angespielte Geigen haben ein grimmiges, aggressives, manchmal sogar brutales Emotionspotenzial. Diese Wirkung wird besonders zu Beginn von "Metamorphosising" genutzt, um dem Stück eine schräge und schroffe Unbarmherzigkeit zu verleihen. Im Kern ist der Song aber friedlich und zugänglich. Diese Eigenschaften werden bald endgültig durch die endlose Wiederholung des gesungenen Song-Titels, ergänzend durch taumelnde Tempovariationen bis hin zu einem disharmonischen Durcheinander, zerstört. Das Stück beschäftigt sich mit der Verwandlung von Mis in ein Monster. Das ist ein Versuch, durch diese Verwandlung ihren Vater aus der Unterwelt zurückholen zu können - was jedoch misslingt. Diese Geschichte dockt an die Rock & Roll-Legenden vom Verkauf der Seele an den Teufel an, um musikalische Fähigkeiten zu optimieren. Das ist eine Sage, die unter anderem im Zusammenhang mit dem Blues-Musiker Robert Johnson überliefert ist.
"Metamorphosising" geht in das gesanglose "Bardo Thodol I" über, das durch ungezwungen improvisierte Töne für angeregte Entspannung sorgt. Bardo Thodol ist übrigens eine Bezeichnung für das tibetanische Totenbuch.
Für "A Constellation Of Voices" werden die Geigen, die die folkloristische akustische Gitarre als Lead-Instrument verdrängen, sowohl sanft als auch anziehend-verlockend gestimmt. Dem Stück liegt eine bedrohlich-unheimliche Stimmung zugrunde, die durch einen dramatisch erregten Balkan-Folk-Sound unterbrochen wird. Mit diesem Lied verarbeitet Jessie die Trauer über den Tod ihres Vaters.
Mit fast sieben Minuten ist "You My Beloved" das längste Lied des Albums. Es ist als wehmütiges, flehentlich-trauriges Chanson mit Anleihen an den "Beerdigungs-Jazz" aus New Orleans umgesetzt worden, was sich als tragfähiges Balladenkonzept mit Hang zur Tragödie erweist.
"O' My Love" geht gefühlsbetont bis an die Grenze, die süßliche Romantik von ergriffener Schönheit abgrenzt und bewegt sich dadurch auf dem schmalen Grat zwischen schnulzigem Kitsch und sehnsüchtiger Kunst.
Mit "Drop Each Leaf" traut sich Monk, einen Song zu erschaffen, der von seiner geruhsam-verhangenen Atmosphäre und nicht in erster Linie von Melodie und Refrain gespeist und genährt wird. Dadurch entsteht ein Zustand von meditativer Einkehr.
"Bardo Thodol II" ist eine Fantasie, die voll und ganz auf instinktive Eingebungen aufgebaut zu sein scheint. Die Schwingungen laufen klagend-ruhig und zurückhaltend-unterbewusst ab.
Der Folk-Song "Father" scheint spontan entstanden zu sein. Zumindest hört er sich nicht wie eine ausgefeilte Studio-Produktion, sondern eher wie ein Teil einer Home-Recording-Session an. Das unbekümmert vorgetragene Lied beamt einen direkt zurück in die Greenwich-Village-Folk-Szene der frühen 1960er-Jahre. Der introvertierte und intensive Vortragsstil steht dabei für inhaltliche Glaubwürdigkeit und gelebter Leidenschaft.
Auch "Shadows" macht aus Verletzlichkeit eine Stärke und erinnert dadurch zum Beispiel an aktuelle Kolleginnen von Jessie Monk, wie etwa Laura Marling oder Julia Holter. Der Track verarbeitet traditionelle Muster, ist aber dennoch dynamisch und stilistisch offen aufgebaut. Deshalb entsteht nie der Eindruck von biederer Hausmannskost, sondern die Komposition kommt atmosphärisch dicht und betörend zugewandt rüber.
Jessie Monk lebt, denkt und arbeitet in ihrem eigenen Kosmos, der spirituelle Vorgänge und Vorstellungen in die Gegenwart befördert. Und das ist gut so, denn auf diese Art und Weise gelingen originelle Ausdrucksweisen, die fernab vom Schubladendenken angesiedelt sind und Empfindungen lostreten, die unter anderem als erhebend, anmutig, sakral, wogend, ehrfürchtig, sphärisch-verklärt oder vibrierend-erregt erlebt werden dürfen. Das führt zu einem berauschenden und intimen Erlebnis!
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