AVERY SUNSHINE - TWENTY SIXTY FOUR (2018)

Wird sie die neue ARETHA FRANKLIN? Hinsichtlich Talent und Stimmumfang ist das gut möglich. Aber das Pop-Business ist ja unfair und unberechenbar. Jedenfalls hat AVERY SUNSHINE mit ihrem dritten Album TWENTY SIXTY FOUR eine Visitenkarte vorgelegt, die neugierig und gespannt macht. Das Werk wurde jetzt um vier Bonus Tracks erweitert und hat damit eine Laufzeit von 78 Minuten. Somit werden alle Facetten von Misses Sunshine beleuchtet.

Eine fabelhafte Stimme ist auf der Suche nach Identität. Steht Avery Sunshine schon auf der Schwelle zum Weltstar?


„Twenty Sixty Four“ ist ein Ausdruck der Liebe. Sowohl musikalisch wie auch inhaltlich: Denise Nicole White, wie Avery Sunshines bürgerlicher Name lautet, ist mit ihrem Gitarristen und Mentor Dana Johnson seit zwei Jahren verheiratet. Als dieser Wunsch in Erfüllung ging, gelobte sie, nie wieder zu fluchen, nicht zu viel zu essen und täglich zu trainieren. Sie betete dafür, dass sie mit ihrem Mann bis zum Jahr 2064 zusammenbleiben möge. Daher rührt der Titel des Albums.
Twenty Sixty Four - Avery Sunshine: Amazon.de: Musik
Der etwas kitschig und albern lautende Künstlername der Frau aus Pennsylvania macht Sinn, wenn die Hintergründe für die Wahl bekannt sind. Er setzt sich nämlich aus den Bezeichnungen zweier Filmcharaktere zusammen: Shug Avery aus „Die Farbe Lila“ von Steven Spielberg und Sunshine aus „Harlem Nights“ von und mit Eddie Murphy. „Twenty Sixty Four“ ist das dritte Werk der stimmgewaltigen Pianistin, die Absolventin eines Philosophiestudiums ist sowie Erfahrungen als Performerin am Broadway gesammelt hat. Die Platte unterstreicht erneut das immense Gesangstalent und zeigt die Musikerin stilistisch zwischen Soul, R&B, Jazz und Gospel pendelnd. Der Opener „Come Do Nothing“ orientiert sich am Neo-Soul und lässt blass und andeutungsweise Funk durchschimmern. Diese Mischung mag den auf Chart-Futter konditionierten Hörer ansprechen, für Retro-Soul-Gourmets bietet sie aber zu wenig Tiefgang und Raffinesse.
„I Just Don't Know“ sucht die üppig ausgestattete Showbühne und bietet Geigen und Bläser auf, um einen Big Band-Soul-Sound mit Jazz-Grooves zu verwirklichen. Diese Zusammenstellung macht allerdings eher einen gedämpften anstatt einen opulent auftrumpfenden Eindruck. Gepflegte Smooth-Jazz-Takte begleiten „Kiss And Make It Better“ und lassen den Titel elegant und beweglich zugleich erscheinen. Ein flirrendes E-Piano leitet die Ballade „Jump“ ein, die allmählich von weiteren leise zugespielten Instrumenten einfühlsam angefüttert wird. Das ist erotisch aufgeladener Schlafzimmer-Soul, dessen musikalischer Reiz im variablen Gesang von Misses Sunshine liegt.
„Used Car“ transportiert flotten, temperamentvollen Motown-Soul in die Jetztzeit und „Heaven Is Right Here“ wird von der Vocoder-Stimme von Mr. Talkbox begleitet, der diese süßliche Schnulze jedoch auch nicht vor dem Mittelmaß bewahren kann. Für „The Ice Cream Song“ bietet Avery ihre ganze gesangliche Klasse auf. Sie erzählt sachlich, umgarnt verführerisch, verkündet leidenschaftlich und flüstert sanft.

Sinnlich und engagiert geht die einfühlsame Sängerin bei „Everything I've Got“ auf Tuchfühlung mit den herausfordernden Soul-, Jazz- und Blues-Bestandteilen des dynamisch gestaffelt aufgebauten Tracks. Die Bandbreite des Ausdrucks umfasst dabei eine Palette, die vom lasziven Flüstern bis zum enthemmten Anklagen reicht. Gesanglich werden diese Herausforderungen mühelos und exzellent gemeistert.
Der Song „Twenty Sixty Four“ lässt den galanten Soul-Pop solcher 1980er-Combos wie Scritti Politti auferstehen, denn trotz des Elektronikeinsatzes entsteht hier eine coole, geschmeidig-elegante Atmosphäre. Der in sich ruhende Country-Folk-Gospel „Prayer Room“ und sein sakrales, intimes Nachspiel „Sweet Hours Of Prayer (Postlude)“ zeigen sich sowohl entspannt, wie auch inbrünstig. Auf den ersten drei Zugaben der Neuauflage bewegt sich Avery professionell als profilierte Jazz-Sängerin zwischen swingender Tradition („Forever's Not Long Enough“), akkuratem Crossover-Pop-Einfluss („Come Do Nothing (Again)“ und zickiger Funk-Ausgelassenheit („No Time For Mess“). Den Abschluss bildet dann eine Version von Carole Kings Klassiker „You've Got A Friend“, die als mitreißender Gospel-Pop-Jazz interpretiert wird.
Avery hat eine beeindruckende, großartige Stimme. Sie vereint die Spiritualität von Aretha Franklin, den Sex-Appeal von Chaka Khan, die Zärtlichkeit von Lizz Wright und sogar die Kratzbürstigkeit von Janis Joplin miteinander. Aber sie verkauft sich aufgrund der stellenweise stromlinienförmigen Arrangements insgesamt unter Wert, denn die Verpackung der Lieder fördert in diesem Fall nicht die Ausdruckskraft: Die Streicher schmusen und streicheln anstatt zu vibrieren und die Bläser dürften durchaus noch schärfer Dampf ablassen. Die optimistisch gestimmte Frau agiert am überzeugendsten, wenn sie von der Leine gelassen wird, sinnlich und verletzlich sein darf oder gesanglich über die Stränge schlägt, rau, roh und unberechenbar ist. Unter den Händen eines einfühlsamen Produzenten, wie z.B. Joe Henry, könnte die Dame tatsächlich die Nachfolge von Aretha Franklin antreten. Das Talent, den Stimmumfang und die Sensibilität kann sie jedenfalls dafür aufbieten.
Die gelegentlich an farblose, Effekt haschende Neo-Soul-Produktionen angepassten Songs mögen das Publikumsspektrum erweitern, trüben und verstellen jedoch den Blick auf die immensen Fähigkeiten der grandiosen Vokalakrobatin. Averys Qualitäten kommen vollends zum Tragen, wenn sie sich von einem luftigen, Ensemble kreativ begleiten lässt und ungehemmt ihren Emotionen freien Lauf lassen kann. Dann wird schnell deutlich, dass hier eine ganz große Sängerin am Werke ist, die sich vor niemandem verstecken muss und durchaus das Rüstzeug zum Weltstar parat hat. Für den Freund anspruchsvoller Pop-Musik wäre es also lukrativ, wenn sich die Künstlerin eindeutig zu attraktiven Songs mit niveauvollen Arrangements bekennen und den auf gängige Trends ausgerichteten, modernen Firlefanz weglassen würde. Fazit: „Twenty Sixty Four“ ist noch nicht das rundum gelungene Vorzeigewerk von Denise Nicole White geworden, stellt aber ihre Fähigkeiten eindrucksvoll vor. Für den Gesang gibt es die Maximalbewertung, in Punkto Songgestaltung ist allerdings hin und wieder noch Luft nach oben.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Waiting For Louise - Rain Meditation

Jahresbestenliste 2023

Lesestoff: Pop steht Kopf