Tribe - Stop & Frisk (VÖ: 04.12.2020)

 

Jazz ist Vielfalt. Jazz umfasst zahlreiche Ausdrucksformen: Neben traditionellem Dixieland findet man unter anderem sphärischen ECM-Jazz und nervenzerfetzenden Free-Jazz. Und welcher Jazz-Fan kann sich schon für alle Ausprägungen begeistern? Tribe ist ein Quintett, das vom Trompeter John-Dennis Renken, der auch für die Electronics zuständig ist, geleitet wird. Seine Formation hebt mal eben die Grenzen zwischen Jazz, HipHop, Dubstep, Pop und Rock auf und ist dabei abenteuerlustig, feurig und schwierig. Neben einem kraftvoll-explosiven Ensemble-Spiel gibt es auch immer wieder Demonstrationen der Fingerfertigkeit der Musiker zu hören.

Der Titel "Stop & Frisk" bezieht sich auf das Recht der Polizei in den USA, jede Person ohne Grund anhalten und überprüfen zu dürfen. Das trifft erfahrungsgemäß besonders Menschen mit dunkler Hautfarbe. Mit diesem Missstand im Kopf hat die Gruppe das Eröffnungs-Stück wütend, freigeistig und brachial gestaltet. Der Bläsersatz, der neben John-Dennis Renken (Trompete) aus Angelika Niescier am Saxophon und dem Posaunisten Klaus Heidenreich besteht, spielt zunächst eckige, nervös-irritierende Fanfaren. Davon bleibt danach die Trompete über, die zu knallenden Schlagzeug-Break-Beats von Bernd Oezsevim ausufernde Improvisationen absondert. Der Sound erinnert in dieser Phase an den Jazz-Rock-Fusion-Sound von Miles Davis zu Zeiten von "Bitches Brew" (1970).

"Meck" präsentiert den Gitarristen Andreas Wahl mit monoton-suggestiven Raumforderungs-Riffs, die jedoch rasch vom Bläser-Trio überlagert werden. Dies steuert gezügelte, kommunikativ zugängliche Töne bei und bringt das Stück so in eine recht melodische Ausgangslage. Im weiteren Verlauf sorgen einzeln eingesetzte Blasinstrumente für nahöstliche Exotik und freigeistige Enthemmung.   

"Dry Heat" agiert zunächst hektisch-nervös. Das äußert sich in Stakkato-haften Instrumenten-Einsätzen, die zunächst durch ein Posaunen- und dann durch ein Gitarren-Solo abgelöst werden. Danach geht es kurz mit einem druckvollen Ensemble-Sound weiter, bevor der Bass das Lead-Instrument wird und sich dann die Bläser wieder mit unterschiedlicher Intensität einmischen. "Einmal" ist überraschend lyrisch ausgefallen. Die Soli fallen nicht durch besonders übertriebene Exzentrik aus dem Rahmen und der Gruppensound swingt, wenn auch etwas neben der Spur. Aber das gehört zum Konzept.

"XX" ist eines von drei Stücken, die John-Dennis Renken seiner Tochter gewidmet hat. Die Gitarre gebärdet sich hier anfangs wie ein wildes Tier, das sowohl an Ritchie Blackmore (Deep Purple) wie auch an Jimi Hendrix geschnuppert hat. Die Bläser-Sektion bringt Crime-Feeling ein, wobei das Tempo immer weiter heruntergefahren und die Stimmung immer friedvoller wird. Der Track endet dann mit etwa einer Minute Stille. "Quatschkopp" vermittelt tatsächlich den Eindruck von Gesprächen zwischen den Instrumenten. Mal wird durcheinander geredet, dann widersprüchlich argumentierend, später engagiert-aufbrausend oder beleidigt kommuniziert. Fun-Fact: Der Titel soll ziemlich gut den Charakter der Tochter von John-Dennis Renken beschreiben...
Für "Löschversuch" wird das freie Spiel auf der E-Gitarre in den Mittelpunkt gerückt. Diese Auswüchse werden im Mittelteil der Komposition von einer ebenso dominanten Posaune verdrängt. Bis zum Schluss bleibt der Track dann überwiegend aggressiv und hektisch. Zu "Charlie`s Lullaby" berichtet John-Dennis Renken: " [Das Stück] habe ich geschrieben, weil Charlotte immer angefangen hat zu weinen, wenn sie meine Musik gehört hat, da musste etwas mit friedlichen Harmonien und Melodien her". Und so hören wir jetzt einen langsamen, sphärischen Track, bei dem die Blasinstrumente einen kühlen, weitläufigen Notenteppich ausbreiten und für eine ausgeglichene Atmosphäre sorgen. Dadurch hat die Tribe-Musik noch eine weitere Facette dazu bekommen. 

Über weite Teile kann man mit den Klängen auf  "Stop & Frisk" - wie John-Dennis Renken ausgeführt hat - Kinder erschrecken, so wild und anstrengend sind sie. Glaubt man, den Sound zwischen Jazz-Rock und Free-Jazz erfasst und verdaut zu haben, dann kommen die Musiker schon wieder mit einer überraschenden Wendung um die Ecke. Immer hellwach und oft im Angriffsmodus rütteln sie an den Geduldsfäden und bringen unter Umständen Hörgewohnheiten tüchtig durcheinander. Auf diese Weise sorgt die Tribe-Truppe - je nach Auffassung - für anstrengende oder anregende Momente. 




 

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