Jahresbestenliste 2021

Wenn es stimmt, dass schwierige Zeiten bei kreativen Menschen besondere Leistungen auslösen können, dann müsste 2021 ein herausragendes Musikjahr geworden sein. Und in der Tat gab es viele außergewöhnliche Alben und Songs zu bestaunen, viel mehr als dieser kleine subjektive Überblick in der Lage wäre aufzuzeigen. Deshalb empfiehlt "Lost & Found: Musik ohne Grenzen" generell und speziell die Seite "Jahres Top Ten 2021des erfahrenen, hochqualifizierten Buchautoren Günter Ramsauer zur weiteren, wesentlich ergänzenden Orientierung.

Lost & Found: Musik ohne Grenzen

präsentiert:


Die Platten des Jahres

01. Peter Hammill - In Translation

Peter Hammill in ungewohnter Mission. Der Van Der Graaf Generator-Chef hat in seiner über 50 Jahre dauernden Karriere bislang nur sehr wenige Fremdkompositionen aufgenommen, da ist es schon ungewöhnlich, dass er mit "In Translation" nun ein ganzes Album mit Cover-Versionen vorgestellt hat. Und dazu gehören nicht etwa die üblich verdächtigen Pop- oder (Progressive)-Rock-Klassiker, sondern eine Auswahl aus Musical-, Chanson- und Klassik-Themen, die sonst nirgendwo zu finden sind und in dieser Ausprägung sowohl speziell wie auch engagiert klingen. 



Brisa Roché & Fred Fortuny formen Pop-Songs, die grundsätzlich mit erlernten Mechanismen gespickt sind, welche sich über Jahrzehnte im Pop-Universum bewährt haben. Man trifft aber auch auf unsichere und abseitige Ereignisse. Dadurch werden die verwendeten Komponenten in einen neuen Zusammenhang gebracht, wobei sich die wohlklingende Harmonie und die erfüllte Erwartungshaltung mit Experimenten und Abenteuern auseinandersetzen muss. Diese Kombinationen führen dazu, dass sich Hörgewohnheiten ausweiten und verändern können. So geht fortschrittliche Unterhaltung, die sich manchmal anschmiegt und dann wieder gegen den Strich gebürstet ist.
 



Neben verschlungenen, psychedelischen Country-Folk-Songs, lasziven Chansons sowie verwehten Balladen kommt auch beißender Soul und Funk, wie ihn in etwa Betty Davis, die ex-Frau von Miles Davis ersonnen hat, bei "Daddy`s Home" zur Geltung. Alle Konzepte finden einen adäquaten Partner in diesem weisen, minutiös durchkomponierten Art-Pop-Werk. Das lässt alle Sinne vibrieren! Welch ein Überangebot an hervorragenden Ideen und verblüffenden Sounds!




Wie wohltuend ist es, tiefgreifend-sensible Musik im Zusammenklang mit exquisiten deutschsprachigen Texten zu hören. Sebastian Król alias Karwendel macht nachdenklich-gefühlvolle Lieder, bei denen Worte und Töne gleich gewichtet und von erlesener Qualität sind.



05. Robert Plant & Alison Krauss - Raise The Roof


14 Jahre nach dem ersten gemeinsamen Werk "Raising Sand" haben sich Alison Krauss, die Sängerin der Bluegrass-All Star-Band Union Station und Robert Plant, der ehemalige Lead-Sänger von Led Zeppelin wieder für eine gemeinsame Arbeit zusammengetan. Und erneut sind hinreißend schöne Cover-Versionen zwischen Blues, Country und Folk dabei herausgekommen.





Billie Marten ist sozusagen die Schwester im Geiste von Laura Marling. Denn auch ihr gelingt es mühelos, sehnsüchtige Melodien mit delikaten Arrangements zu bestücken, so dass sich die Songs trotz ihrer Vielschichtigkeit luftig und leicht anhören.





Dem diskreten Charme der Kompositionen von Rodrigo Leão kann man sich nicht entziehen. Unaufdringlich-eindringlich nehmen die Noten Besitz vom Geschmackszentrum und lassen die Zuhörenden beseelt und entspannt zurück. Wie schafft es der Mann bloß, schwierige musikalische Anordnungen so anmutig und unbefangen klingen zu lassen?



08. Daniel Lanois - Heavy Sun


Der Klang-Tüftler Daniel Lanois hat schon für Größen wie Bob Dylan, Emmylou Harris oder Neil Young gearbeitet, aber auch mit seinen eigenen Werken eine besondere, eigenständige Stimmung getroffen. US-Südstaaten-Schwüle, ein geheimnisvoller Voodoo-Flair sowie Ambient-Schleifen beherrschten dabei häufig das Klangbild. Auf "Heavy Sun" widmet sich Lanois dem Gospel, dem er eine neue Perspektive verschafft. Laut Lanois steht seine aktuelle Musik mit einem Bein in der Vergangenheit und mit dem anderen Bein in der Zukunft. Die spirituell-ergriffene Stimmung wird oft durch beseelt-verzückten Gesang und rauschend-sakrale Hammond-B3-Orgeltöne geprägt, enthält aber auch schwirrende Elektronik und aufstachelnde Rhythmus-Einlagen. Wahrlich ein ganz exquisites, erbauliches Hörerlebnis.



09. Hiss Golden Messenger - Quietly Blowing It


Der Singer-Songwriter MC Taylor ist der kreative Kopf hinter Hiss Golden Messenger. Und "Quietly Blowing It" betört erneut mit vom Soul getränkten Country-Folk, der trotz melancholischer Ausrichtung eine tröstende, die Seele wärmende Aura vermittelt. Das ist Balsam für die sentimentalen Momente im Leben. 





Selbstbestimmung, Provokation und eine brennend intensive Leidenschaft zeichnen "A Common Turn" der Newcomerin Anna B Savage aus London aus. Songs mit schneidendem Gesang und ungewöhnlichen Wendungen lassen unerschrockene Hörerinnen und Hörer gefesselt zurück, denn durch die unvermeidbare Sogwirkung der Kompositionen ist kein Entkommen möglich. 





Der zweite Streich nach "A Beginners Guide To Bravery" aus 2020. Und was für das Erstlingswerk galt, bestimmt auch das aktuelle Album: Die Songs sind geprägt von kompromisslos starkem Ausdruck und von individueller, unabhängiger Güte. Was für ein ungeschliffenes, energiegeladenes, freigeistiges Talent!





Protest-Songs sind alles andere als antiquiert und langweilig, wie Sarah Lesch erneut mit "TRIGGERWARNUNG" beweist. Ein heller Geist und eine spitze Zunge beflügeln die klugen Texte und eine eingespielte, differenziert agierende Band sorgt für eine feinsinnige Begleitung. Mehr davon!



Der Groove heiligt die Mittel. Da kann es außerhalb von Funk und Soul bei "Yellow" auch schon mal jazzig-vertrackt zugehen. Trotzdem behalten die Stücke von Emma-Jean Thackray ihre Bodenhaftung, selbst bei anspruchsvoll-komplexen Klängen. Die Stücke versetzen nämlich qualifiziert Körper und Geist in Wallungen. Die Musikerin löst auf diese Weise quasi die Quadratur des Kreises. Kunst und Groove gehen hier wahrlich eine sinnvolle Kombination ein!



Die Platte passte zum Sommer wie die Faust aufs Auge: "Bademeister*in" machte einfach nur gute Laune, "Als ob" erklärt die Notlüge zum probaten Mittel für ein konfliktfreieres Miteinander, "Besser als Nichts" transportiert eine ausgeglichene Leichtigkeit des Seins und "Ich bin leider schuld" macht aus der Erklärungs-Not eine Ehrlichkeits-Tugend. Alltags-Philosophie ohne erhobenen Zeigefinger und ohne abgedroschene Kalenderblatt-Weisheiten für ein Publikum, das niveauvolle Pop-Musik zu schätzen weiß.




Nathaniel Rateliff ist sowohl im Soul, Rhythm & Blues, Country-Folk, Roots-Rock wie auch im Pop zuhause. Souverän nutzt er die Errungenschaften seiner musikalischen Vorbilder für seine Zwecke und erschafft mithilfe der Referenzen Lieder, die ihm auf den Leib geschneidert zu sein scheinen. Er setzt dabei zeitlos attraktive Schemata so wirkungsvoll ein, dass sie wie frisch entdeckt wirken. Beachtlich!  




Was sonst noch wichtig war...

Die Songs des Jahres 
(die nicht auf den Alben des Jahres enthalten sind)

01. Steven Wilson - 12 Things I Forgot

Optimismus, Zuversicht, Aufbruchstimmung, all das drückt der Art-Pop von "12 Things I Forgot" vom Album "The Future Bites" aus und vertreibt somit für einen Moment Trübsinn, Sorgen und Ungewissheit. Was will man mehr?



Ian Fisher nimmt den American Way Of Life satirisch aufs Korn und vermittelt mit den Noten, die sich bei "American Standards" im aktiven Power-Pop-Modus befinden, pure Lebensenergie.



03. Benny Sings - Nobody’s Fault

Leichtigkeit und Komplexität unter einen Hut zu bekommen ist eine hohe Kunst in der Pop-Musik. Steely Dan konnten das perfekt und auch der Niederländer Tim Berkestijn alias Benny Sings hat verstanden, wie das geht. "Nobody`s Fault" vereint Eleganz, Geschmeidigkeit und Souveränität in Sachen Songaufbau so überzeugend, dass das Lied sowohl Soft-Rock- wie auch Smooth-Jazz-Fans gefallen kann.



04. Adam Douglas - Into My Life

"Into My Life" ist ein Lied über die Midlife-Crises. Es wird Bilanz gezogen und eventuell werden Richtungsänderungen vorgenommen. Der durch die Neuorientierung erlangte Schwung treibt den geduldig tänzelnden Rhythm & Blues voran und lässt ihn beständig funkeln.



05. Loney Dear - Trifles

Der schwedische Singer-Songwriter Emil Svanängen firmiert unter dem Namen Loney Dear. Er wurde von Peter Gabriel als "Europas Antwort auf Brian Wilson" bezeichnet. Für "Trifles" schlüpft er zusätzlich in die Rolle eines Nick Drake, denn samtene Melancholie, melodische Harmoniesucht und eine sakral-sensible Atmosphäre bestimmen den sowohl zerbrechlichen wie auch dramatischen Song. 



06. Django Django - Spirals

Hypnotisierend, pulsierend, sich immer schneller drehend und bewegend gibt "Spirals" ein Musterbeispiel davon ab, wie Bewegungsabläufe in Klangfarben gefasst werden können. Der lebhaft erregte Track schraubt sich unnachgiebig in die Gehörgänge und bleibt dort für eine lange Zeit haften. 



07. Celeste - Stop This Flame

Celeste wurde schon mit Amy Winehouse, Billie Holiday und Aretha Franklin verglichen. "Stop This Flame" wird durch einen flotten Jazz-Groove eröffnet, in den sich Celeste zunächst angepasst hineinfallen lässt, bevor sie ihre mächtige Stimme erhebt und die sich ungestüm hochschaukelnde Situation an sich reißt. Die polyrhythmische Begleitung hat dabei Mühe, sich gegenüber dem heftigen Kontroll-Reiz zu behaupten. Das Stück wechselt noch einige Male zwischen Anmut und Überschwang, was den Track pumpend am Leben erhält.



08. Rhye - Black Rain

Wer an Wiedergeburt glaubt, der wird meinen, dass zwei Seelen in "Black Rain" stecken könnten: Die von Marvin Gaye und die von Prince. Der Track ist sexuell aufgeladen, verfügt über einen heftig klatschenden, monotonen Takt und die helle, flehende Stimme von Michael Milosh trägt zusätzlich dazu bei, Assoziationen an die beiden viel zu früh verstorbenen Soul- und Funk-Ikonen hervorzurufen.



09. The Posies - Live Wire

Diese Version von "Live Wire" wurde für die Zusammenstellung "Frank Popp Ensemble Presents: Under Covers" aufgenommen. Die Posies werden ihrem Ruf gerecht, eine untrügliche Spürnase für zwingend-mitreißende Power-Pop-Perlen zu besitzen: Der Song geht ab wie Luzie, bringt melodische Cleverness und Punk-Druck vorzüglich zusammen und wird makellos temperamentvoll vorgetragen, so dass er gerne mehrmals hintereinander laufen darf.



10. Old Sea Brigade - Day By Day

"Day By Day" ist untypisch für die ansonsten eher in sich gekehrten Songs der Old Sea Brigade um Ben Cramer. Das Stück wird nämlich durch einen stoischen Rhythmus und von einer instrumentalen Unruhe geprägt, was durch eine Ausweitung des Klangspektrums im Laufe der Zeit noch zwingender erscheint. Cramer ist bemüht, dass ihm die Situation nicht durch übertriebene Aufregung entgleitet, was ihm letztlich auch gelingt, denn im Kern handelt es sich bei "Day By Day" um einen dynamischen Pop-Song, der seine kummervollen Wurzeln durch hektischen Aktionismus zu verschleiern versucht.




Die Wiederveröffentlichungen des Jahres

01. Van Der Graaf Generator - The Charisma Years 1970 - 1978

Der Heilige Gral für jeden Peter Hammill / Van Der Graaf Generator-Besessenen! Obwohl der Hardcore-Fan natürlich schon alles von dem Ensemble (wahrscheinlich sogar in unterschiedlichen Ausstattungen und Formaten) haben dürfte, kommt er wohl an dieser Box nicht vorbei. Über 17 CDs und drei Blu-rays ergießt sich der Output der Art-Rocker aus den Jahren 1970 bis 1978, wobei neue Stereo-Mixe von Stephen W Tayler der Werke "H To He Who Am The Only One", "Pawn Hearts", "Godbluff" und "Still Life" vorliegen. Außerdem gibt es ein bisher unveröffentlichtes Konzert ("Live at Maison de la Mutualite, Paris, 6.12.1976) in guter Sound-Qualität (da ist man wahrlich Schlimmeres gewöhnt) sowie ein paar unbekannte Bonus-Tracks, einer Blu-ray mit Video-Material und einem Buch mit teilweise bisher unbekannten Fotos. Wer kann da schon widerstehen?


02. Crosby, Stills, Nash & Young - Déjà Vu (50th Anniversary)



Die vier unterschiedlichen Charaktere, deren Reibungen untereinander für zwischenmenschliche Spannungen gesorgt haben, prägten die Aufnahmen von "Déjà Vu". Dass dabei auch magische Momente entstanden sind, ist ein Glücksfall. Auf "Déjà Vu" gibt es jedenfalls kein schwaches Lied, auch wenn die Zerwürfnisse zwischen den Musikern dazu geführt haben, dass die wenigsten Songs wirklich gemeinsam eingespielt wurden. Von diesen Disharmonien ist allerdings nichts zu spüren. Ganz im Gegenteil: Der Gruppen-Gesang ist himmlisch und die Song-Ideen sind sensationell.



03. David Crosby - If I Could Only Remember My Name (50th Anniversary)


DIE Referenzplatte des psychedelischen West-Coast-Rock. Rauschhafte, mystisch verschlungene Tracks erzeugen eine Stimmung, die den Hippie-Traum vom unbeschwerten, friedlich-kreativen Zusammenleben akustisch zum Greifen nah erscheinen lässt. So durchgängig inspiriert, offen und gleichzeitig zielorientiert wie auf seinem Solo-Debüt hat David Crosby danach nur noch selten agiert. 



04. Nick Cave & The Bad Seeds - B-Sides & Rarities (Part II)


27 Songs befinden sich auf der zweiten Raritätensammlung von Nick Cave & The Bad Seeds, darunter gibt es wieder einige Perlen. Wer also nicht genug von den empathisch-aufwühlenden Musikern bekommen kann, der darf bedenkenlos zugreifen, sofern er nicht schon alle Fundstücke sein Eigen nennt. "B-Sides & Rarities (Part II)" ist jedenfalls alles andere als eine billige Resteverwertung.





"Electrically Possessed (Switched On Volume 4)" beleuchtet die Schaffensphase der anpassungsfähigen Formation Stereolab aus London zwischen 1997 bis 2008. Sie kleideten in dieser Zeit ihren elektronisch grundierten Sound mit Easy Listening-, Jazz-, Bossa Nova-, Art-Pop- oder Chanson-Sounds aus. Das hat Stil, kann außergewöhnlich, aber auch vertraut klingen. Für Abwechslung und Niveau ist jedenfalls gesorgt.




Die Compilations des Jahres



Frank Popp feiert das 20jährige Jubiläum seines Hits "Hip Teens Don`t Wear Blue Jeans". Dazu hat er 21 Gruppen, Musiker oder Musikerinnen dazu eingeladen, seine Songs zu würdigen. Eine weitgefächerte Stil-Bandbreite und ein erstaunlicher Spielwitz zeichnen die dadurch entstandenen Cover-Versionen auf "Frank Popp Ensemble Presents: Under Covers" aus und vermitteln ein originelles Hörvergnügen.


02. I'll Be Your Mirror: A Tribute To The Velvet Underground & Nico


"The Velvet Underground & Nico" taucht in etlichen Auflistungen zur Wahl der bedeutendsten Alben aller Zeiten in der Top 10 auf. Sich an solch einem Klassiker mit Cover-Versionen abzuarbeiten, birgt eine gewisse Gefahr des Scheiterns, weil die Originale quasi einen unangreifbaren Ruf besitzen. Die teilnehmenden Künstler schlagen sich aber überwiegend wacker, bewegen sich mal nah an der Vorlage oder sind auch mal weit weg von den Idolen. Aber immer schwingt Respekt bei der Bearbeitung und Cleverness bei der Umsetzung mit. Wer als Velvet Underground-Fan nicht sklavisch an den Originalen klebt, kann hier interessante Deutungen der Klassiker erleben.





Die Macher der "Too Slow To Disco"-Reihe durchsuchten die unendlichen Weiten der Easy Listening-Archive nach Smooth-Soul, auf die das Ursprungs-Motto von 2014 passt: "A Compilation Series Of Late 70s Westcoast Yachtpop You Can Almost Dance To." Das Ergebnis der Ermittlung ist jedenfalls oft kurzweilig, ungezwungen und vergnüglich ausgefallen.


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