Peter Broderick & Ensemble 0 - Give It To The Sky: Arthur Russell's Tower Of Meaning Expanded

Achtung! Kunst! Peter Broderick interpretiert "Tower Of Meaning" von Arthur Russell in einer angepassten Fassung.

Der 1987 in Carlton, Oregon geborene Multiinstrumentalist, Komponist, Produzent und Tontechniker Peter Broderick ist ein unkonventioneller, abenteuerlicher, Genre-Grenzen sprengender Artgenosse. Genauso wie der von ihm mit "Give It To The Sky" gewürdigte, 1952 geborene und leider schon 1982 verstorbene, wagemutige Querkopf, Komponist und Multiinstrumentalist Arthur Russell. Beide Künstler lieben es zu experimentieren und sich jenseits vom Massengeschmack auszudrücken. Deshalb ist die Zuneigung von Broderick zu Russell nicht ungewöhnlich, sondern logisch. Ebenso passend ist die Einbeziehung des 12-köpfigen französischen Ensemble 0 zur Realisierung der Neuauflage von "Tower Of Meaning", einem Orchester-Werk von Russell aus 1983. Die Begleit-Musiker um Stéphane Garin und Sylvain Chauveau bringen die entsprechende Vorbildung mit, um beurteilen zu können, welche Klangfarben zielführend dafür sind, um das ehemals für eine Theateraufführung konzipierte Werk einfühlsam zu restaurieren.

"Give It To The Sky" ist Herbstmusik, Kammermusik, traurige Musik, herausfordernde Musik, besinnliche Musik, meditative Musik. Es gibt keine schrillen, sondern nur warm-weiche Töne auf dem Album. Peter Broderick singt mit einer wenig modulierten und variierten Stimme, die dennoch in der Lage ist, einen hypnotischen Reiz mit innigen Gefühlsregungen zu erzeugen.
Credit: Jean-Jacques Ader

Das Piano sucht für "Tower Of Meaning I" nach Identität, wirkt einsam und verloren. Ihm schließen sich dann nacheinander Streicher, Vibraphon und Bläser im Gleichklang an. Das gemeinschaftliche Anstimmen der Klänge sorgt für Halt und Harmonie in dunklen Zeiten. Pastoral-feierlich wirken die Blas- und Saiteninstrumente bei "Tower Of Meaning II", die zusammen Töne erzeugen, die einer wohltemperierten Kirchenorgel gleichen.

"Tower Of Meaning III" unterbricht dann abrupt die andächtige Stimmung, um das Umfeld drohend-belastend einzufärben. Die Noten werden länger ausgespielt, was für ein weiteres Plus an Bedächtigkeit sorgt.

Trommeln, die klingen, als würden schwere Wassertropfen auf den Deckel einer leeren Regentonne fallen und Streicher, die einen verirrten Eindruck hinterlassen, prägen das instabile "Tower Of Meaning IV", das auch aus dem Schulwerk von Carl Orff stammen könnte. 

Der Gesang zum Lagerfeuer-Folk von "Corky I" scheint von weit herzukommen oder aus dem Telefon zu schallen. Das sich im selben Stück anschließende "White Jet Smoke Trail I" lässt die Töne fliegen. Sie schweben friedvoll-sanft und drücken somit Demut vor dem Dasein aus.

"Consideration" und das später auftauchende Lied "Give It To The Sky" sind heftig zu Herzen gehende Pop-Balladen mit sensibel-verwundetem Gesang, wunderschönen, unaufgeregten Melodien und zarter, kammermusikalischer Begleitung. Zum Dahinschmelzen!
Und weil es so schön ist, hier noch einmal "Give It To Sky" als Live-im-Studio-Aufnahme (nicht auf dem Album vorhanden):

Manche Blasinstrumente geben für "Tower Of Meaning V" nur ein Rauschen von sich, so vorsichtig werden sie angeblasen. Man traut sich kaum zu atmen, um die intime Atmosphäre nicht zu stören. Hier herrscht die Kunst der Langsamkeit und Ruhe, die zu innerer Einkehr führen kann.

Eine kratzige Geige, ein flirrend-schwirrender, außerirdisch erscheinender, aus der Konzentration herausführender Ton und dezent gezupfte Saiten bilden für "Tower Of Meaning VI" ein Muster, welches viel Spielraum zur Interpretation bietet: Traumgebilde, die akustische Abbildung der Aura eines Hochsensiblen oder Science-Fiction-Stimmungen könnten hier die Grundlage für die Entstehung der Komposition gewesen sein.

Bei "Tower Of Meaning VII" stimmen die Bläser zurückhaltende, hymnische Schwingungen an, die das Stück in einem Dämmer-Zustand zwischen Schlaf- und Wach-Zustand halten. Bei "Tower Of Meaning VIII" tauchen sie wieder auf, die fast tonlos klingenden, mageren Bläser. Sie werden von anderen, sphärisch-weitläufig schwelgenden Fanfaren und dezenten Streichern liebevoll in den Arm genommen.

"Tower Of Meaning IX" ist klanglich die Fortsetzung von 
"Tower Of Meaning VIII", nur noch weltabgewandter, meditativer und versunkener inszeniert. Das ist quasi ein Abbild des spirituellen Jazz von Alice Coltrane mit anderen Mitteln. Das angegliederte "Corky II" wird als Abwandlung von "Corky I" als geisterhafte Song-Erscheinung ausgeprägt. Bei "Tower Of Meaning X" sind dann Bläser und Streicher im Einklang vereint, wie bei einem Choral ohne Stimmen. Die dazu eingestreuten Bässe wirken massiv-erhaben wie eine Kirchenorgel.

Dunkel drohende Töne lassen kein Sonnenlicht durch, sie benutzen für "Tower Of Meaning XI" die Dehnung der Zeit zur Erhöhung der Intensität und kennen keine Gnade, wenn es um die Darstellung von Schwermut geht. Das geht im Prinzip bei "Tower Of Meaning XII" so ähnlich weiter. Statt tiefschwarz herrscht nun aber dunkelgrau, denn es erklingen schüchterne, helle, glockenartige Töne, die an einen Wind, der durch einen Kristallpalast streift, denken lassen. Ein Ende der Tristesse kündigt sich an.

Der Weg zum Licht wird mit "Corky III" fortgesetzt. Der Song ist zwar auch kein Ausbund an Fröhlichkeit, erblüht aber allmählich von melancholisch-gediegen zu hoffnungsvoll-harmonisch. 
Wie ein sich öffnendes Bewusstsein erlangt das Stück eine Präsenz, die allumfassend, selbsttragend und süffig ist. Die Seele wurde vertrauensvoll ans Universum übergeben. Der Kreis ist geschlossen.

Jetzt kann gefeiert werden und "White Jet Smoke Trail II" liefert als unbekümmerter, tapsig klingender, Jazz-Pop-Instrumental-Track den Soundtrack dazu. 

Die beteiligten Musiker haben sehr viel Zeit, Leidenschaft und Kreativität in die Verwirklichung von "Give It To The Sky" gesteckt. Peter Broderick hatte Zugriff auf den Nachlass von Arthur Russell, der sich auf über 1.000 Stunden auf Tonband aufgenommenes Material erstreckt. Aus diesem Fundus hat er noch vier nicht fertiggestellte Stücke ausgewählt, die die Würdigung ergänzen. Dabei handelt es sich um den Song "Give It To The Sky" und "Corky I bis III". Julian Pontvianne, der Saxofonist vom Ensemble 0, beschäftigte sich in aufwendiger Kleinarbeit damit, den Ursprüngen veränderte Arrangements anzupassen, weil sich die Vorlagen unfertig anhörten. Das sollte aber ganz in Gedanken daran ablaufen, wie sie wohl Russell vervollständigt hätte. Um Spontanität walten zu lassen, wurde das Album dann fast ohne Nachbearbeitung in einem kleinen Theater im Südwesten von Frankreich eingespielt.

"Tower Of Meaning" lag bei Peter Broderick und dem Ensemble 0 in guten Händen. Das Ursprungs-Album und die neuen Stücke sind unter der Wandlung zu einer stabilen, sich gegenseitig stützenden Einheit zusammengewachsen. Die bedächtig-betrübte Stimmung der Tracks vermag es, einen tröstenden Charakter heraufzubeschwören, weil die Schwingungen trotz aller Dunkelheit von Wärme durchflutet sind. Deshalb legen sie sich wie eine anschmiegsam-weiche Decke um die Sinne und lassen aus Melancholie Mitgefühl auferstehen. Das ist große Kunst, denn es sind wertige Klänge von originell-konstruktiver Qualität geschaffen worden. So wurde aus dem Avantgarde-Ansatz eine anspruchsvolle Unterhaltungsmusik erzeugt.

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