Neuschnee - Der Lärm der Welt

Nie war "Der Lärm der Welt" angenehmer und kultivierter als bei Neuschnee.
Hans Wagner stammt aus Berlin und ist Chef, Sänger, Musiker und Komponist der Wiener Band Neuschnee, die mit "Der Lärm der Welt" ihr fünftes Album vorlegt. Ein Markenzeichen des Sounds des Septetts ist das flexibel agierende Streichquartett, bestehend aus zwei Violinen, einer Viola und einem Cello. Komplettiert wird die Instrumentierung noch durch Gitarre, Bass, Klavier, Schlagzeug und Live-Tontechnik.
Credit: Nicole Brandstätter

Was die Musiker in dieser Besetzung zu Gehör bringen, spielt sich jenseits gängiger Pop-Musik-Muster ab, hat aber trotzdem einen enorm attraktiven Unterhaltungswert.

Gläsern-metallische Töne, die sich nach splitternden Materialien anhören und ein erzählerischer, leicht betrübter Gesang leiten das Album und dadurch den Track "Ganz leise" ein. Rauschend auf- und abschwellende Klänge packen dann diese Stimmung in Watte, bevor gezupfte Streichinstrumente, eine unbeeindruckt stumpf auftrumpfende Basstrommel und monoton tickende Percussion eine kühle Realität einblenden. Nach einem weiteren nachdenklichen Abschnitt künden unheilvolle Geigen einen aufkommenden Klangsturm an. Und dieser erscheint dann in Form eines Schlagzeug-Donnerwetters, verzerrt-wilden E-Gitarrentönen, einer verfremdeten Stimme und dramatisch brodelnder Kammermusik. Wenn sich diese aufmüpfige Ton-Breitseite verzogen hat, übernimmt der traurige, lautmalerische Gesang die Führung bis zum Schluss. Das Stück beschäftigt sich poetisch und subtil mit den Situationen, die sich beinahe unmerklich - also ganz leise - als 
Energie-Räuber erweisen. Ohne diese alle konkret aufzuzählen, gehören wahrscheinlich Selbstzweifel und "diese Tage, bei denen du innerlich weinst und äußerlich lachst" dazu.

Fiktive künstliche Bläser erzeugen für "Diese Welt ist schöner" ein blumig-fantasievolles Klangbild, welches vom herausfordernd 
illustrierten Cover-Motiv inspiriert zu sein scheint. Elektronische und akustische Schwingungen gehen eine gemeinsame Verbindung ein, bei der es hinsichtlich der überraschenden, ästhetisch anregenden Gestaltung nur Gewinner gibt.

Der barocke Dream-Pop von "Feuer in mir" bekommt mittendrin unverhofft Druck und Tempo auf den Kessel, was den grundsätzlich harmonisch linear ablaufenden Track zwischendrin unberechenbar und positiv willkürlich erscheinen lässt. Die Texte "Und wieder prügel ich mich mit dem Bodyguard meiner Seele. Wird es nicht langsam mal Zeit, dass wir mal Frieden schließen" und "Irgendwo, irgendwo brennt ein Feuer in mir" zeigen eine innere Zerrissenheit, die sich musikalisch widerspiegelt.

Klassik, Pop, Funk und Jazz gehen bei "Was noch möglich ist" eine begeisternde Allianz ein, die Genre-Grenzen durch eine gehörige Portion Leichtigkeit und Überschwang aufheben.

Die ausladende, raue, nach Verständnis suchende Sperrigkeit der orgiastischen Prince-Hymne "Purple Rain" scheint bei der Komposition von "Metronom" mindestens im Unterbewusstsein Pate gestanden zu haben. Die aufmerksame, stellenweise sogar dominante, krachend-knurrige, aggressiv oder melodisch rockende E-Gitarre begleitet das Stück durch sein sechseinhalb minütiges, wechselhaftes Dasein.
"Schattenkind" entführt in eine märchenhaft verwunschene, idyllische und auch lebhafte Soundlandschaft. Die Sätze "Manchmal bin ich wie ein Schiff ohne Kompass, dann wieder ein leuchtender Stern" oder "Du mein Schattenkind sag mir, was brauchst du denn um glücklich zu sein" symbolisieren eine innere Zerrissenheit, die viele Menschen umtreibt.

Das betrübliche Kammermusik-Intro im Nick-Drake-Modus bei "Auf hoher See" verwandelt sich schnell in einen wogenden, abenteuerlich vorpreschenden Barock-Rock im euphorischen Power-Pop-Dunst. Lieblingszitat: "Das Leben ist ein langer Kuss, der sich wehrt mit langen Zähnen".

Vor Schwermut triefende Melancholie trifft bei "U-Boot" auf Hip-Hop-Break-Beats sowie fiepende, klatschende, wummernde und pumpende Effekte. Die elektronischen Spielereien fügen sich dabei experimentell, aber dennoch relativ organisch ins Klangbild ein und sprengen den elitären Rahmen, den die klassische Musik traditionell vorgibt. Der Zusammenhang zum Titel "U-Boot ergibt sich folgendermaßen: "Und du fragst mich, wie leb ich mein Leben: Na als U-Boot, ja, als U-Boot", nämlich "Mittendrin, doch nicht dabei, doch nicht dabei. Heimatlos, doch dafür frei, doch dafür frei"

"Alles schwimmt davon" erfüllt viele Kriterien von dem, was guten psychedelischen Folk ausmacht: ein versponnen-verdrehter Melodie-Ansatz, eine mystisch-rauschhafte Stimmung, ein transparenter Klang und seltsam-geheimnisvoller Gesang. Inhaltlich wird unter anderem das Problem der Vermarktung von Teilnehmern bei Casting-Shows angeprangert: "In der Show singt die alleinerziehende Mutter, viele Emotionen, viel Applaus. Die Jury lobt: Musik kennt ja kein Alter. Und dann fliegt sie raus. Ja, es wollen alle hören, die Chancen, die sind gleich. Aber nur was sich verkaufen lässt, macht dich und andre reich." 

Der Barock-Pop von "Fliege durch den Tag" hat mehr aufmunternde als bedrückende Anteile, verbreitet aber im Gesamtzusammenhang nicht den Eindruck eines eigenständigen Stückes, sondern wirkt wie die geordnete Einleitung zum über sechzehn Minuten langen, zentralen Titel-Track "Der Lärm der Welt".
(Wohnzimmersession, Wien, Dezember 2018.)

"Lärm der Welt" hört sich erst einmal wie das Einspielen eines Orchesterensembles mit Beimischung von Umweltgeräuschen an. Es wird also eher Chaos statt Disziplin verbreitet. Erst nach über sieben Minuten kommt Song-Struktur in das unübersichtliche Sound-Gebilde, das zu einem theatralischen Klassik-Pop-Rap-Hybriden heranwächst.


"Der Lärm der Welt" hat eine verheißungsvolle, kontrastreiche Emotions-Kombination auf Lager! Die eingesetzten Instrumente vermitteln einträchtige Traurigkeit und Lebensfreude. Die konkurrierenden Bestandteile tanzen gemeinsam oder getrennt sowohl in den Schatten als auch ins Licht und erschaffen auf diese Weise eine kunstvoll-lebensnahe Atmosphäre mit bewegten und bildhaften Zwischentönen.

"Die Produktion dieses Albums hat viel Kraft, Zeit und Ressourcen verschlungen. Ich bin an einem Scheideweg und kann nicht versprechen, dass es noch einmal so ein Album geben wird. Neuschnee wird es aber sicher weiterhin in einer anderen Form geben". Soweit Hans Wagner zur Zukunft des Projektes Neuschnee. Dabei sind die kompositorischen und textlichen Möglichkeiten noch gar nicht voll ausgeschöpft worden, sondern stehen entwicklungstechnisch noch ziemlich am Anfang. Diesen Eindruck vermittelt der unverbrauchte, prickelnd-originelle Sound jedenfalls ständig. Bitte mehr davon!

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