St. Vincent - All Born Screaming

"All Born Screaming" hat ausdrucksstark die essenziellen Dinge des Lebens im Blick.

Der erste Schrei nach der Geburt ist ein Triumph, denn er entscheidet womöglich darüber, ob das Leben eine Chance erhält. Er ist ein Ur-Schrei, der die Angst, das Leiden und die Ungewissheit des Geburtsvorgangs hinter sich lässt und den Gegenpol, nämlich die Entspannung, die Zuversicht und die Liebe möglich macht. Die 1982 in Tulsa, Oklahoma, geborene Künstlerin Annie Clark, die sich St. Vincent nennt, überträgt die Metapher des Titels ihres siebten Albums "All Born Screaming" hinein in ihre Gegenwart: "Ich stehe auf der Schwelle zwischen Leben und Tod, und ich versuche, damit klarzukommen", gesteht sie sich ein.
Das erste Werk seit "Daddy`s Home" aus 2021 lebt von Gegensätzen und Reibungspunkten und von konsequenten, richtungsweisenden Klang-Vorgaben. Daneben wird versucht, Kontroversen miteinander zu versöhnen, verlässliche Kompromisse zu erschaffen und unkonventionelle Wege akzeptabel zu gestalten. St. Vincent ist die Denkerin und Lenkerin hinter den zehn absolut faszinierenden, intelligent strukturierten und gehaltvoll ablaufenden Kompositionen, die aufgrund ihrer Komplexität die erhebliche Substanz erst nach und nach erahnen lassen. Qualitäts-Songs mit Langzeit-Garantie!

Der Eröffnungs-Track "Hell Is Near" durchläuft eine kompositorische Metamorphose, die mit hallend-dunklen Tönen beginnt, dann zu sphärisch-jazzigen Klängen übergeht und mit schillerndem Folk-Rock weitergeführt wird, der schließlich in meditative Passagen mündet. Mehr Vielfalt kann kaum in vier Minuten untergebracht werden. Trotz der unterschiedlichen Strömungen erklingt der Song organisch fließend. Das kommt, weil St. Vincent durch ihren verbindenden, mitreißend-engagierten Gesang alles zusammenhält und somit für Solidarität unter den Noten sorgt.

Auch "Reckless" endet nicht so, wie der Track begonnen hat. Die schüchtern-zurückhaltende, intime Piano-Ballade ist eine ganze Weile in schmerzlich-sehnsüchtigen Bereichen unterwegs, bevor sich die Stimmung allmählich immer weiter emotional hochkocht. Das führt zu einer Entladung in einem epochalen, brachialen Industrie-Sound-Gewitter, bei dem es kracht und tobt, sodass akustisch die Funken fliegen.

Der Heavy-Metal-Boogie-Blues "Broken Man" führt den monoton-hypnotischen Takt des Vorgängers fort, ohne dessen geballte Aggressivität zu übernehmen. Ein primitiver Minimalismus in Form von Rhythmen, die bis in die Steinzeit zurückreichen könnten, werden von futuristischen Maschinenklängen angegriffen, die die Zukunft als kalt und unnahbar demonstrieren. Mittendrin eine Annie Clark, deren Gesang sich innerhalb dieses Getöses nicht bemüht, Lust und Wut zu unterdrücken.

"Flea" ist ein massiver Rock-Track, der von der empfindsamen Seele eines eingängigen Power-Pops geleitet wird. Die absolute Wucht der Schlagzeug-Attacken von Dave Grohl und Annies zerrend-wilde Gitarre lassen keine Energiekrise aufkommen. In den Verschnaufpausen gesellen sich kecke Duett-Gesänge von St. Vincent mit Annie Clark und gut gelaunte, neckende Instrumentalpassagen dazu, die dem Song jegliche Bosheit nehmen.

"Big Time Nothing" bietet einen Karneval der Klänge an: vielfarbig, lebensfroh, krachend, sprudelnd und grenzenlos tolerant feiern die Schwingungen eine rauschende Party. Ein Feuerwerk an Tonfarben erhellt den Raum, eine Wundertüte an Rhythmus-Eskapaden tut sich auf, es klappert, scheppert, klingelt, kracht und trommelt an allen Ecken und Enden. Und das alles in dem engen Rahmen eines trocken rumpelnden Funk-Songs, bei dem der Funk angriffslustig, draufgängerisch und zupackend wie einst bei Betty Davis daherkommt. Sie war als Pionierin in erster Linie eine Vorreiterin selbstbewusster weiblicher Emanzipation im Pop-Business und erst in zweiter Linie die Frau von Miles Davis.

Mit "Violent Times" wurde eigentlich schon der nächste James Bond-Titelsong geschrieben, denn der Track erfüllt alle Kriterien, den solch eine Hymne mitbringen muss: Fette, kantige Bläsersätze, einen knackigen Rhythmus, eine Frauenstimme, die lasziv und selbstbewusst klingt, eine Melodie, die Dramatik und Romantik vereint, dynamische Abstufungen beim Tempo und der Lautstärke sowie einen Refrain, der sich nur langsam, aber beständig ins Hirn frisst.

Dass Annie Clark eine Verehrerin von David Bowie ist, war bekannt. Nun hat sie sich für "The Power’s Out" von Bowies "Five Years" inspirieren lassen und - eventuell heimlich in Gedenken an ihn - eine betörende, sphärisch schwirrende und kraftvoll brummende Ballade verfasst.

Da sage noch jemand, Elektronen könnten nicht swingen: Für "Sweetest Fruit" hüpfen und springen die Synthesizer-Töne hin und her wie Wassertropfen auf der heißen Herdplatte. Eine gewisse Nähe zu dem exotischen Synthesizer-Pop von Ryūichi Sakamotos Yellow Magic Orchestra ist hinsichtlich der ungezwungenen Naivität des Synthesizer-Einsatzes festzustellen. Das Lied ist den viel zu früh verstorbenen queeren Künstlern Sophie Xeon und Daniel Sotomayor gewidmet, die von Annie "aus der Ferne" bewundert wurden.

Mit "So Many Planets" wagt sich St. Vincent in sonnige Pop-Ska-Gefilde vor. Dieser entspannte Sound wird mit zwitschernden Space-Effekten und einem kurzen, turbulenten Gitarren-Solo garniert, ohne dass dabei die Leichtigkeit des Seins verloren geht. 

Das fast 7-minütige "All Born Screaming" verbreitet zunächst flexibel reagierende Groove-Pop-Akkorde und zwingt sich dabei auf wie "Harmony Hall" von Vampire Weekend. Der Song zieht in dieser Phase nämlich seinen Elan auch aus Afro-Funk-Bestandteilen, die ihn überaus lebendig erscheinen lassen. Es folgt ein Space-Rock-Jam-Einschub, der ein abruptes Ende mit sich bringt. Das Stück wird danach als elektronischer Gospel-Dance-Track mit einem "All Born Screaming"-Mantra bis zum Schluss fortgesetzt. Spiritualität und der Puls der Zeit haben zueinander gefunden und sich lustvoll vereint. 


Man kann St. Vincent mit jedem Song auf "All Born Screaming" neu kennenlernen, andere Akzente und Facetten entdecken und die Künstlerin mehr und mehr schätzen lernen. Sie bildet Liebe und Spaß genauso authentisch ab wie Gewalt und Wut. Annie Clark ist erstmalig auch als alleinige Produzentin aufgetreten und hat viel Mühe und Detailarbeit in die Arrangements, ihre ausgezeichnete, kraft- und effektvolle Gitarrenarbeit und ihren schnörkellosen Gesang gesteckt. "Ich musste allein mit mir selbst in einem Raum sitzen, drauflos singen, mit modularen Synthesizern herumspielen, Knöpfe drehen, Stromflüsse umleiten, und dann diese sechs Sekunden ausfindig machen, in denen alles passt - um daraus dann einen ganzen Song zu bauen. Ich bin regelrecht besessen, was Produktionen angeht", erklärt die Künstlerin ihre Akribie beim Basteln an den neuen Liedern. Von ultrazart bis brachial-böse deckt sie ein weites Spektrum an introvertierten und extrovertierten Klängen ab, die eines gemeinsam haben: Sie klingen alle verdammt gut.

Annie Clark alias St. Vincent gibt einem den Glauben an eine Pop-Kultur zurück, die durch den Blick auf das Wesentliche, präzises Einfühlungsvermögen, soundtechnisches Talent und ein umfängliches Pop-historisches Wissen zu unvergänglichen Eindrücken beitragen kann. Sie kann somit den Pop Kopf stehen lassen und maßgeblich zur Entwicklung und Aufwertung der Musiklandschaft beitragen. 

"Ich denke, es ist die Aufgabe eines Künstlers, der psychische Spiegel der Gesellschaft zu sein, in der er lebt, und die innere und äußere Gewalt aufzugreifen und zu versuchen, sie in etwas zu verwandeln, das auf irgendeine verworrene Weise befreiend wirkt. Es ist die Aufgabe eines Künstlers, gefährlich zu sein, besonders in diesen Zeiten", erzählte sie Matt Mitchell vom PASTE-Magazine. Die Formel: "All Born Screaming = Meisterwerk" geht demnach voll auf. Das Album lässt keine Wünsche offen, wenn es um anspruchsvolle Pop-Musik geht.

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