St. Vincent - Daddy`s Home

 
Annie Erin Clark wurde 1982 in Tulsa, Oklahoma geboren und als sie sieben Jahre alt war, zogen ihre Eltern in die Einöde von Texas. Schon früh wurde das Mädchen vom Künstler-Virus infiziert, denn sie lernte bereits mit 12 Jahren Gitarre zu spielen und hatte das Privileg, als Teenager mit ihrem Onkel Tuck Andress vom Jazz-Duo Tuck & Patti auf Tournee gehen zu dürfen. Nach dem Abitur studierte das strebsame Talent an der Berklee School Of Music und nahm 2003 zusammen mit anderen Studenten unter dem Namen Ratsliveonnoevilstar eine EP auf. 2004 war es verlockender, sich dem ausgeflippten Chor The Polyphonic Spree als Gitarristin und Sängerin anzuschließen, als auf der Uni zu bleiben. Nach Stationen bei Glenn Branca, Arcade Fire und Sufjan Stevens war es Zeit für eine eigene musikalische Identität und für einen passenden Künstlernamen. Das Pseudonym St. Vincent wurde sowohl von der Großmutter wie auch vom Namen des New Yorker Hospitals inspiriert, in dem der Poet Dylan Thomas starb.

Innerhalb weniger Jahre nach Veröffentlichung des ersten Longplayers "Marry Me" in 2007 hat sich St. Vincent dann vom Insider-Tipp über einen Kritiker-Liebling zu einer etablierten, festen Größe im Alternative-Rock gemausert. Dazu beigetragen hat sicherlich auch die Unterstützung renommierter Musiker wie David Byrne, mit dem sie 2012 die Platte "Love This Giant" aufnahm. Eine besondere Ehre wurde ihr jetzt durch Paul McCartney erwiesen, der sich persönlich für ihren Remix von "Women And Wives" auf "McCartney III Imagined" bedankte. Bei soviel Wohlwollen und Anerkennung ist die Erwartungshaltung an das neue Werk, welches am 14. Mai 2021 erschienen ist, besonders hoch. 

St. Vincent geht bei ihrem sechsten Solo-Album "Daddy`s Home" mit großem Selbstbewusstsein zu Werke und vertraut voll auf ihre Erfahrungen sowie den zahlreich erworbenen Fähigkeiten. Die neuen Schöpfungen wurden entsprechend zielsicher mit unverbrauchter Energie und großen Gesten ausgestattet. Der Titel der Platte spielt auf den Sachverhalt an, dass Annies Vater 2010 wegen Wirtschaftskriminalität inhaftiert wurde und erst nach einem langen Gefängnisaufenthalt wieder nach Hause kam. Die andauernde Verarbeitung dieser surrealen Situation, plötzlich eine enge Bezugsperson verloren zu haben und die Überlegungen, was eine Vaterrolle eigentlich ausmacht, inspirierten sie zu dem aktuellen Werk. Die Beschäftigung mit der Vergangenheit hat auch Erinnerungen an die Musik zurückgebracht, die sie als Kind hörte und auch diese Eindrücke haben Spuren bei "Daddy`s Home" hinterlassen.

Los geht es mit "Pay Your Way In Pain", wo nach einem Vaudeville-Intro kokette, kräftige Funk-Merkwürdigkeiten im Stil von "Come" (vom gleichnamigen Prince-Album) die Regie übernehmen. Oder sind hier etwa Streiflichter der Funk- und Disco-Pioniere aus den 1970er Jahren eingeflossen, die womöglich durch die Räume und Flure des Elternhauses von Annie hallten? Auf jeden Fall geistern David Bowies Ausflüge in schwarze Musik - und hier besonders der Song "Fame" von "Young Americans" (1975) - durch die Komposition. Der Bass pumpt kräftig und der Groove wird durch einige Breaks abgelenkt, was den Track in die Jetztzeit befördert. In dem Lied geht es um die tägliche Bewältigung des Alltags, die ohne Kampfeswillen nicht zu meistern wäre.
Eindeutig retro-orientiert ist auch "Down And Out Downtown". Hier gibt es psychedelischen, harmonisch swingenden Jazz-Folk zu hören, wie er ab Mitte der 1960er Jahre von Fred Neil, Tim Buckley oder Pentangle entworfen und kultiviert wurde. Annie Clark trägt den Song voller Leidenschaft, mit Würde und einer großen Portion Optimismus vor.

Lasziver Nachtclub-Jazz hat den Track "Daddy's Home" geprägt. Das Stück verbreitet den distanziert-erwartungsvollen Charme einer Schleichkatze und die Frivolität einer Burlesque-Show. Eine lässige Eleganz - wie sie von Steely Dan`s "Gaucho" bekannt ist - umschlingt und umweht die Noten und bringt noch eine coole Cleverness mit ein, die den Song zu einem besonders raffinierten Kleinod werden lässt.
Der perfekte Easy-Listening-Pop der Carpenters stand Pate für die zuckersüße Verpackung des zeitlupenhaften "Live In The Dream". Aber St. Vincent wäre nicht St. Vincent, wenn ihr nur diese eine Assoziation für die Gestaltung eines Songs reichen würde. Und so gibt es auch noch ein kurzes Gitarren-Solo, das sehr gut auf "Wish You Were Here" von Pink Floyd gepasst hätte.

Country-Rock, Joni Mitchell-Referenzen, Space-Rock, spirituelle Gesänge und Fleetwood Mac-Pop-Harmonien sind nur ein paar Zutaten, die für "The Melting Of The Sun" zu einem betörenden Art-Pop-Gebilde zusammen geführt wurden. Der Song ist als Liebeslied an starke Künstlerinnen gedacht und symbolisiert unter anderem, dass edler Sanftmut wahre Stärke bedeutet.
Das Chanson "The Laughing Man" wirkt mondän, souverän, ausgeglichen und frivol. St. Vincent zeigt sich als verführerische Dame von Welt, die alle um die Finger wickeln kann und die Gestaltungs-Fäden fest in der Hand hält. Das Lied ist also sexy, geheimnisvoll und entspannt zugleich.

Der Disco-Funk "Down" wirkt euphorisierend und wurde angenehm vertrackt gestaltet. Es soll sich hier eigentlich um eine Rache-Phantasie handeln. Annie Clark versteht es aber, durch differenzierte Rhythmus-Linien zu überzeugen, statt wild aufzutrumpfen. Sie muss nicht klotzen, um leidenschaftliche Töne zu erzeugen, sie erschafft diesen Effekt schon alleine durch das gezielte Setzen von markanten Ausrufezeichen.
Der Country-Folk-Pop "Somebody Like Me" weist Dream-Pop-Tendenzen auf, geht aber aufgrund seiner entwaffnenden Natürlichkeit zu Herzen. Die Krönung vollbringt hier Greg Leisz mit seiner hinreißenden, jauchzenden Pedal-Steel-Guitar-Einlage. "Liebe ist eine einvernehmliche Täuschung. Das ist für mich sehr poetisch und sehr romantisch.", sagt St. Vincent zum Inhalt des Textes.

"My Baby Wants A Baby" ist ein klassischer Pop-Song, der von Wohlklang-Spezialisten wie den beinahe vergessenen Künstlern The Zombies, The Left Banke, Emitt Rhodes oder Seals & Crofts ersonnen worden sein könnte. Ist er aber nicht. Es ist ein Original von St. Vincent.
Der Funk-Jazz-Pop "At The Holiday Party" wäre neben einigen anderen Songs auf dem Album in einer besseren Welt ein Radio-Hit. Das Lied hat alles, was ein Sympathieträger benötigt: Einen Gesang mit Wiedererkennungswert, eine einprägsame Melodie, einen Ohrwurm-Refrain und Ecken und Kanten, die den Track lange interessant und spannend halten. 

"Candy Darling" war eine 
transsexuelle Schauspielerin aus dem Umfeld von Andy Warhol. Diese Hommage an sie ist genauso einfühlsam wie wehmütig und schon nach kurzer Zeit vorbei. Wie das Leben der Protagonistin, die mit nicht einmal 30 Jahren in New York an AIDS starb. Auf dem Cover-Foto von "Daddy`s Home" zeigt sich Annie Clark in ähnlicher Kleidung und mit ähnlichem Haarschnitt wie die Warhol-Ikone.

Um die vielen Eindrücke zu verwischen und Verwirrung zu stiften, werden an Position 6, 9 und 14 kurze, atmosphärisch verwehte Einspieler unter dem Namen "Humming (Interlude 1-3)" eingeblendet, die dem Werk eine geheimnisvolle Aura verpassen.

Wird Annie Clark nur von ihrer Vergangenheit eingeholt oder hat sie den richtigen Zeitpunkt gewählt, um auf Spurensuche zu gehen und Bewährtes aus der Pop-Historie mit Umsicht, Feingefühl und kreativem Bewusstsein aufzuarbeiten? Egal, jedenfalls passt alles wundersam zusammen, denn "Daddy`s Home" ist das vielseitigste, stilistisch offenste Werk geworden, welches St. Vincent bisher veröffentlicht hat. Die intelligente Künstlerin wuchert mit Versatzstücken, die nicht unbedingt von tatsächlich existierenden Vorlagen entliehen sein müssen, aber zumindest den Eindruck hinterlassen, sie kämen aus dem kollektiven Bewusstsein der Pop- und Rock-Historie. Was das Album so stark macht, ist sein übersprudelnder Ideenreichtum, der nicht als Selbstzweck dasteht. Er wird vielmehr genutzt, um Songs ins Leben zu rufen, die überraschend sind, aber für den langjährigen Musikhörer etliche Referenzen bereithalten, so dass sie sofort heimisch und vertraut klingen, dabei aber originell und unverbraucht klingen. Das ist eine große Kunst, die nicht viele Musiker beherrschen. Chapeau! 

Das Album hat das Zeug dazu, auch noch am Jahresende so zu beeindrucken, dass es in den Bestenlisten von 2021 ganz weit oben steht. Zeitlose Brillanz und spannendes Songwriting kommen hier wie Nitro und Glyzerin zusammen, um ein Feuerwerk an Einfällen abzubrennen.

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