STEPHIN MERRITT - 50 SONG MEMOIR (2017)

Nach 69 LOVE SONGS von 1999 gibt es jetzt mit 50 SONG MEMOIR ein weiteres bemerkenswertes Großwerk "voller Tracks, bei denen lieblicher, konzertanter Art-Pop, lebendig-verwinkelter Folk oder rhythmisch betonter New Wave bevorzugt wird. Aber der Lebensrückblick umfasst eigentlich alles vom Kunstlied über Kitsch bis hin zum Great American Songbook." 

Das Leben ist eine Ansammlung von bemerkenswerten Momenten. Stephin Merritt lässt uns an seinen Erinnerungen und Gedanken aus 50 Jahren teilhaben.


Stephin Merritt mag Themensammlungen und hat einen Hang fürs Überzogene, Gigantische und Übervolle. 1999 brachte er als The Magnetic Fields „69 Love Songs“ auf einmal heraus. Aus dieser konzeptionellen Skizzensammlung suchte Peter Gabriel das karge, versunkene „The Book Of Love“ aus und veredelte den Track zum melancholisch-intensiven Art-Pop-Song. Diese Version wurde als würdevoller Abschied in ein Staffelfinale der absurd-lustigen Krankenhaus-Serie „Scrubs – Die Anfänger“ integriert und zeigte, wie gehaltvoll und ausbaufähig die Komposition ist. Und jetzt gibt es ein „50 Song Memoir“, das für jedes Lebensjahr des Künstlers ein Lied mit prägenden oder zumindest erinnerungswürdigen Gegebenheiten bereitstellt.
50 Song Memoir: Amazon.de: Musik
Merritt betrachtet „50 Song Memoir“ als Antwort auf „69 Love Songs“. Das neue Werk hat häufig autobiographische Züge, während die Beleuchtung der Liebesangelegenheiten mehrheitlich ausgedachte oder verändert dargestellte Beziehungsgeschichten präsentierte. Auch wenn bei der Umsetzung der jetzt vorliegenden Memoiren in Tonform noch dreizehn weitere Akteure beteiligt waren, so ist das Monumental-Werk doch prinzipiell eine Solo-Arbeit, denn Stephin spielt hier über hundert Instrumente selber und ist für die Kompositionen, die Arrangements, den Gesang und fast die gesamte Produktion zuständig. Bei diesem Überangebot kann – genau wie bei „69 Love Songs“ – nicht erwartet werden, dass jeder Song sofort zündet oder im Ohr des Hörers Wohlgefallen findet. Das ist wie bei einer Fernseh-Serie, wo es Aufbau- und Besinnungs-Phasen geben muss, um die Erzählstränge zusammenzubringen. Aber als Endergebnis entsteht dann doch ein fesselnder Gesamteindruck. Auch wenn manche Lieder kurios und nicht leicht zugänglich sind, so haben doch alle Ideen eine solide Pop-Basis. Mal offensichtlich, mal verschleiert ausgedrückt. Selbst bei experimentell angelegten Stücken wie „'91: The day I finally...“ geht die Geschmeidigkeit der Melodik nicht vollends verloren.
Merritt breitet ein Füllhorn von Zitaten und Einfällen aus, die sich durch die Dekaden seines Lebens ziehen. Die Stücke sind musikalisch manchmal der Zeit gewidmet, der sie zugeordnet wurden: Wie z.B. „'76: Hustle 76“ der damaligen Disco-Ära. Oder sie entstammen dem in den 1980er Jahren aus der New Wave hervorgegangenen New Romantic-Trend: So wie das als Hommage an den Ultravox-Sänger John Foxx gedachte „'83: Foxx and I“. Andere Songs, wie das exotisch-berauschende „'87: At the pyramid“ oder das liebliche „'88: Ethan Frome“ haben zwar auch zeit-typische Electro-Pop-Bestandteile, orientieren sich jedoch eher am Psychedelic-Sound der 1960er-Jahre. Gelegentlich ist eine Hinwendung zum ausschmückenden, melodiebetonten, vollmundigen Folk zu verspüren. Das mag mit den biographischen Daten des Songwriters zu tun haben. Durch seine Hippie-Mutter wurde er als Kind mit dem Folk und Folk-Rock der 1960er Jahre beschallt und genetisch ist er durch seinen Vater, den Songwriter Scott Fagan vorbelastet. Dessen aus 1968 stammendes Psychedelic-Soul-Folk-Album „South Atlantic Blues“ wurde 2015 wiederveröffentlicht.
Der Songzyklus „50 Song Memoir“ hinterlässt den Eindruck eines überlangen Theater-, Cabaret- oder Musical-Stücks in 50 Akten. Die Lieder überschreiten die dreieinhalb Minuten-Hitsingle-Marke nur in drei Fällen, sind häufig sogar unter drei Minuten kurz. Da bleibt keine Zeit für lange Ausschweifungen und deshalb kommt Stephin Merritt auch schnell zum Kern der klanglichen und inhaltlichen Aussagen. Die Produktion hinterlässt durchweg einen ausgereiften Eindruck, ohne dass dabei ein gewisser forschend-suchender Übungsraum-Charakter gänzlich aufgegeben wird. Schon beim ersten Hördurchgang schimmern einige Perlen besonders hell. Nicht nur das zauberhafte, barock-sonore „'98: Lovers' lies“ und das bedächtige, eindringlich-schöne „'01: Have you seen it in the snow?“ belegen nämlich das bestechende Kompositions- und Arrangement-Talent des Magnetic Fields-Kopfes, der Melodien für die Ewigkeit ersinnen kann. Findige Kollegen werden schon wegen erfolgversprechender Cover-Versionen auf der Lauer liegen.
„50 Song Memoir“ ist eine Wundertüte voller Tracks, bei denen lieblicher, konzertanter Art-Pop, lebendig-verwinkelter Folk oder rhythmisch betonter New Wave bevorzugt wird. Aber der Lebensrückblick umfasst eigentlich alles vom Kunstlied über Kitsch bis hin zum Great American Songbook. Neben diesen Schwerpunkten werden auf dem Weg durch die Pop-Musik-Geschichte nebenbei und wie zufällig noch etliche Assoziationen wachgerufen: Dunkelgraue Chanson-Schwermut („'77: Life ain't all bad“, „'96: I'm sad!“), Broadway-Musical-Opulenz („'67: Come back as a cockroach“), Harmony-Pop-Wohlklang („'66: Wonder where I'm from“) oder Fake-Jazz-Extravaganz („'72: Eye contact“) sind Bestandteile des Gesamtpaketes.
Außerdem werden noch Erinnerungen an Musiker-Kollegen wie Adam Green („'69: Judy Garland“), Rufus Wainwright („'71: I think I'll make another world“), The Human League („'80: London by jetpack“, „'97: Eurodisco trio“), Kraftwerk („'81: How to play the synthesizer“, „'84: Danceteria!“), der junge Scott Walker („'98: Lovers' lies“) oder XTC („'10: 20,000 Leagues under the sea“) wach. Außerdem kommen rauschhafte Klänge von Beck („'73: It could have been paradise“, „'78: The blizzard of '78“) oder den psychedelischen Beatles („'87: At the pyramid“, „'89: The 1989 Musical Marching Zoo“), die diese für „Magical Mystery Tour“ oder „Sgt. Pepper`s Lonely Hearts Club Band“ 1967 erdacht haben, ins Gedächtnis.
Trotz aller Querverweise lässt der Konzept-Pop-Künstler keinen Zweifel an der Urheberschaft aufkommen, denn die Songs tragen durchweg seine spezielle Handschrift. Stephin Merritt reiht Mini-Dramen, schwelgerische Bekenntnisse und neugierige Versuche mit Wissen, Können und Eigenständigkeit mutig aneinander und hält sie durch spielerische Leichtigkeit und ausladende Gefühlsbetonungen zusammen. Je nach Verfassung des Hörers lösen die Vibrationen sofort eine positive Wirkung aus oder benötigen weitere Durchläufe, um hinsichtlich ihrer Geltung richtig eingeordnet werden zu können. Die große Spannbreite der Emotionen sorgt dafür, dass ständig neue Favoriten ausgemacht werden. Das Überangebot sorgt zunächst für eine selektive Wahrnehmung. Wirkungslos oder langweilig wird es jedoch nicht.
Am Ende eines Durchlaufs wird der geneigte Musikfreund wahrscheinlich Dinge entdeckt haben, die ihn gespannt auf das nächste Zusammentreffen machen werden. Mit jedem weiteren Eintauchen in das Leben des Stephin entpuppen sich andere heimliche und offensichtliche, beim letzten Hören noch nicht entdeckte Schätze. Das ambitionierte Werk bietet somit anregende und vergnügliche Auseinandersetzungen für viele Stunden und unterschiedliche Gelegenheiten. Was für eine enorme künstlerische Leistung!
Es gibt schon mehrere Videos aus der 5 CD-Box auf YOUTUBE. Hier zum Kennenlernen das schöne "`02 Be True to Your Bar":


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