LYDIA DAHER - WIR HATTEN GROSSES VOR (2017)

LYDIA DAHER ist Lyrikerin und Musikerin. WIR HATTEN GROSSES VOR behandelt entsprechend Text und Klang künstlerisch, verleugnet aber auch nicht eine Vorliebe zum Pop. Pop, der intellektuell sein will und Jazz, der seine Vielfalt beweist, finden bei Lydia Daher eine gemeinsame Heimat.

Ist das Jazz oder Pop, was Lydia Daher umtreibt? Schnell wird klar, dass Schubladen und Kategorisierungen nicht weiterhelfen, um die Musik der in Berlin geborenen und in Köln lebenden Lyrikerin und Sängerin eindeutig zu beschreiben. Lydia überrascht, zeigt ein breites Klang-Spektrum, hat keinerlei Berührungsängste, passt sich nicht an, scheut Klischees, denkt künstlerisch, handelt musikalisch und mischt Töne und Worte auch in ungebräuchlichen Ordnungen. Die Künstlerin mag nach eigener Aussage die relative Vorhersehbarkeit der Produktionsweise des Pop und mitsingbare Melodien genauso wie die flüchtige und lebendige Ungewissheit der Improvisation. Für Lydia geht es manchmal darum, für einen Moment das Scheitern zu feiern und dabei politische und persönliche Perspektiven zu offenbaren. Das sich nicht festlegen wollen und die Offenheit bei den Gestaltungen sind dabei nicht nur ein musikalisches Ausdrucksmittel, sondern auch eine Geisteshaltung oder Lebenseinstellung der Autorin.
Lydia Daher – WIR HATTEN GROSSES VOR | Trikont
Beim flüchtigen Hören sind die Worte nicht wichtig, nicht mal unbedingt verständlich. Auch die Sprache spielt keine Rolle, denn der malmende Fluss von Texten und Tönen bahnt sich hemmungslos einen Weg, der Details unwichtig erscheinen lässt. Buchstaben und Noten sind dazu da, dem Hörer eine Welt zu bescheren, die ihm neue Perspektiven erschließt. Die gemeinschaftliche Verwendung von groovenden Drums, stolpernden Percussion, intellektuellen Bass-Figuren und klaren Pop-Strukturen macht die Anziehungskraft von „Kein Grund für Tränen“ aus. Völlig unerwartet wird der Stakkato-New Wave-Takt von „Ich komme hier nicht weg“ abgewürgt und durch einen Spoken-Word-Beitrag mit Free-Jazz-Saxophon-Untermalung unterbrochen. Das war aber nur ein kurzer Gewaltakt. Das Stück nimmt seinen hastigen Verlauf wieder auf, wird aber zum Schluss von dem trötenden Saxophon wieder eingeholt. Das Piano tropft aushöhlend wie ein stetiger Wassertropfen, die Melodie trägt feine Züge und das Rhythmusgespann zeigt bei „Immer der Sonne nach“ seine Jazz-Ausbildung. Die Percussion-Abteilung klöppelt bei „Ruinieren“ einen schnellen, unaufhaltsamen Rhythmus auf Fake-Reggae-Basis zusammen. Der Gesang hält sich bei dieser Tour de Force jedoch vornehm zurück.
Für „Nein, nein“ findet das Saxophon zunächst nicht in die Spur, die von einem stupiden, unbarmherzigen Herzschlag-Takt gelegt wird. Aber die Instrumente lassen sich doch noch auf gemeinsame Abläufe ein und bringen das Stück einvernehmlich zu Ende. Dazu finden Aussagen statt, wie: „Ja, ich weiß noch, wie es weitergeht. Und ich bin nicht allein solang ich neben mir steh.“ „Küssen an der Küste“ geht als konventioneller Elektro-Pop in der Art von 2Raumwohnung durch. Man wartet hier vergeblich auf das Aushebeln von geläufigen Strukturen und Abläufen. Afrikanische Volksmusik, Avantgarde und Chanson treffen bei „Wirklich“ aufeinander und fusionieren zu einer intensiven, düster-monotonen Ballade. „Skulpturenpark“ bietet Geräusche an, die jenseits des Mainstream angesiedelt sind. Lydia zitiert ihre Texte dazu emotionslos, wie von einer fremden Macht gesteuert. Der Track findet sich nicht wirklich in der Realität zurecht, denn er weist alptraumhafte Züge auf. Bei „Meine Störung“ läuft als Konstante ein angedeuteter Bossa Nova-Rhythmus ab. Das Geschehen wird aber dennoch eindeutig von den Improvisationen der Gitarre und des Saxophons bestimmt. Gesang und Instrumentierung scheinen zunächst in „Über die Welt, die eigene Lage“ gegeneinander zu arbeiten, kommen dann aber doch noch zusammen. Das Kontrastprogramm erzwingt dabei vollständige Aufmerksamkeit. Der Drogen-Nebel von Tim Buckleys „Lorca“ legt sich über „Für dich, der nicht nach Hause findet“, das von summenden Männerstimmen und pochenden Percussion-Tönen aus der Lethargie gezogen wird. Pop und Jazz tauchen dann für „Irgendwas, irgendwann“ nebeneinander auf und beflügeln sich gegenseitig.
Das neben- und mit einander von Kunst und Pop bei „Wir hatten Grosses vor“ ist grundsätzlich spannungsreich, könnte aber manchmal noch eine Feinjustierung vertragen. So gibt es Stücke, bei denen das Pendel zu einseitig in Richtung Experiment ausschlägt wie bei „Skulpturenpark“, „Meine Störung“ oder „Über die Welt, die eigene Lage“. Das alleinige bloße zur Schau stellen von Andersartigkeit reicht aber nicht aus, um die Sinne zu betören. „Küssen an der Küste“ lässt im Gegensatz dazu eine kritische Auseinandersetzung mit der Musik vermissen. Der Reiz der Musik von Lydia Daher besteht in der gegenseitigen Befruchtung und Störung des Wohlfühlfaktors und in der Abenteuerlust bei der Zusammensetzung von Dichtkunst und Kunstlied. Wenn dann noch die Worte fest von den Klängen ummantelt werden, so dass deren Bedeutung erst durch konzentriertes Sezieren heraus gekitzelt werden kann, entsteht eine stimulierende Kunstform. Das passiert bei den meisten Liedern von „Wir hatten Grosses vor“.
Lydia Daher hat über Poetry-Slam-Auftritte zur Musik gefunden und entwickelte deshalb ein Gespür für wirkungsvolle Wechselbeziehungen zwischen Text und Klang. Auf ihrer vierten Platte erscheint sie nicht so dadaistisch wie das Gesamtkunstwerk Balbina, aber auch nicht so diszipliniert wie die ausgebildete Jazz-Sängerin Lisa Bassenge. Die sinnsuchenden, wagnisreichen Pop-Jazz Chansons der Deutsch-Libanesin bilden aber in etwa die Schnittmenge zwischen den Konzepten der beiden Künstlerinnen.
Und hier gewährt uns die Künstlerin Einblicke in ihre Arbeit:

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