SOPHIE HUNGER - MOLECULES (2018)

Molecules
Die Ungewöhnliche: SOPHIE HUNGER war bisher für ihre Unberechenbarkeit bekannt. MOLECULES zeigt sie auf dem Synthesizer-Trip zwischen Kraut-Rock und New Wave. Ungewöhnlich, aber auch nicht ohne Reiz:

Die Undurchschaubare: Sophie Hunger genießt den Ruf, unberechenbar zu sein.

Sophie Hunger lässt sich nicht kategorisieren, weil sie keinem festgelegten Plan folgt. Musikalische Ideen setzt sie ohne Kalkül um, ohne Anpassung an Trends, Konzepte oder Richtlinien. Dabei wechselt sie je nach Eingebung sogar die Sprache: Es gibt Songs mit englischen, französischen, deutschen oder schweizerdeutschen Texten, denen sie wechselnde Instrumentierungen verpasst, wodurch unterschiedlich abgestufte Gefühlsebenen dargestellt werden. Mal ergeben sich dadurch kratzbürstige und mal sanfte Verläufe. Sophie ist mit einem natürlichen, freigeistigen Instinkt ausgestattet und produziert ihre Musik mit wachem Gespür für Aufrichtigkeit. Das passiert ohne Rücksichtnahme auf die Erhöhung von Verkaufschancen, einfach aus Lust und Laune heraus.
Sophie Hunger: Molecules (CD) – jpc
Entsprechend bunt werden musikalische Stile gemischt: Jazz erklingt neben Folk, Chanson neben ruppigem Rock, Eingängiges neben Struppigem. Das ist das Außergewöhnliche an ihrer Kunst und macht das Hören ihrer Platten so spannend, setzt aber auch ein offenes Ohr für unterschiedliche Musikarten voraus. Stillstand ist ein Fremdwort für die pfiffige Schweizerin, die mit dem neuen Album einen spürbaren Kurswechsel vollzieht: Sophie singt fast durchgehend Englisch, mit Ausnahme von ein paar Textzeilen auf Deutsch in „Electropolis“ und auf Französisch in „Coucou“. 
Außerdem wird die Elektronik noch offensiver eingesetzt als beim vorangegangenen Studio-Album „Supermoon“ von 2015. Kraut-Rock und New Wave stechen als Einflüsse hervor. „Molecules“ verarbeitet eine Trennung, bei der das Gefühl entstand, dass alles in seine kleinsten Bestandteile zerfallen war. Sophie erwähnt, dass sich auch grade ein ähnlicher Prozess auf politischer und gesellschaftlicher Ebene vollzieht.
„She Makes President“ macht darauf aufmerksam, dass den Frauen bei der letzten Präsidentschaftswahl in den USA eine besondere Verantwortung zukam, da sie für die Entscheidung sorgen konnten. Für das Lied wird eine bedrückende Stimmung durch mechanisch wirkende Töne erzeugt, die durch den optimistischen Gesang wieder aufgelockert wird. Eine beschwörend romantische Instrumentierung verleiht dem Folktronic-Track „Sliver Lane“ eine absurd kitschige Färbung und lässt ihn gleichzeitig auch lieblich, vertrackt und mysteriös klingen. Bei der dunklen, verträumten Ballade „There Is Still Pain Left“ geht es darum, wie es ist, mit jemandem zusammen zu leben, der von der Dunkelheit angezogen wird und dadurch das Gespür für den Mitmenschen verliert. Das Lied klingt wie eine komplexe Komposition von Laura Marling und weiß nicht nur durch einen betörenden Refrain, sondern auch durch akzentuierten Gesang sowie mit originellen Synthesizer-Sounds zu überzeugen.
„Tricks“ lässt die 80er Jahre im übermütigen, übertrieben künstlich aufbereiteten New Wave-Stil auferstehen. Im diffusen Walzertakt schunkelt sich danach „Let It Come Down“ teils übermüdet, teils erwartungsvoll und verwunschen durch eine futuristische, synthetische Märchenlandschaft. Ausgelassene karibische Rhythmen begleiten dann das wortreiche und lieblich schimmernde, mit Sprechgesang unterlegte Electro-Chanson „I Opened A Bar“. Allerdings lauert dabei ständig eine verschleierte Bedrohung im Hintergrund. Mit „Oh Lord“ ist Sophie dann ganz nah am transformierten Funk der letzten Platte von Joan As Police Woman („Damned Devotion“, 2018) dran.
Der Rhythmus-Computer gibt bei „The Actress“ einen aufmunternden Takt vor, der Gesang bleibt jedoch überwiegend reserviert. „Electropolis“ ist im Grunde ein poetischer Pop-Song, wird aber durch die tickende Elektronik in Unruhe versetzt. Das Lied ist eine Hymne auf Berlin, wo Sophie Hunger derzeit lebt. „That Man“ wabert nachdenklich im verschwommenen Bossa Nova-Stil umher, präsentiert sich aber trotzdem verführerisch. 
Auch „Coucou“ transportiert Melancholie und bemüht sich vergeblich, Zuversicht auszustrahlen. Die Musikerin mag grundsätzlich keine Gewohnheiten oder Routinen aufkommen lassen. Sie bindet sich auch privat nicht an Orte oder Sachen, lässt jetzt aber für „Molecules“ erstmals gleichartige Strukturen entstehen. Häufig erweisen sich die Synthesizer dabei als nützliche Helfer: Sie dienen als monotone Taktgeber, werden als weichzeichnende Hintergrundmaler benutzt oder kommen als kreative Soundgestalter zum Einsatz.
Die bisherigen Studioalben der gebürtigen Bernerin hinterließen den Eindruck von bunten Wundertüten. Das neue Werk wirkt manchmal wie ein von Maschinen gesteuerter, von fremder Hand dirigierter Pop-Fusions-Bastard. In diesem synthetisch-technologischen Umfeld muss sich Sophie ihren natürlichen Lebensraum erst einmal zurück erobern und das versucht sie vehement durch Empathie oder Durchsetzungsvermögen. Es ergeben sich dennoch Momente, die den Eindruck erwecken, die Computer wären übermächtig. Auch das ist eine neue Facette in der Musik von Sophie Hunger. 
Fazit: „Molecules“ ist Alles in Allem das perfekte Einsteigerwerk in den Klang-Kosmos der umtriebigen 35jährigen Musikerin. Der Unkundige findet hier eine relativ homogene Songsammlung mit wenigen anstrengenden Eskapaden vor und dem Fan bleibt das Vergnügen, neue Songs in einem ungewohnten Gewand kennenzulernen.

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