Trevor Powers - Mulberry Violence (2018).

Einzig, nicht artig: Trevor Powers probt den Art-Pop-Aufstand und verlangt dem Hörer dabei einiges an Durchhaltevermögen ab.


Es kommt manchmal vor, dass Pop-Musiker beweisen wollen, dass sie auch zeitgenössische Künstler sein können. Deshalb haben Andy Partridge von XTC und Paddy McAloon von Prefab Sprout wohl auch ihre extravaganten Solo-Werke „Lure Of Salvage“ (1980) und „I Trawl The Megahertz“ (2003) aufgenommen, die ihre bekannte musikalische Welt auf den Kopf stellten. Trevor Powers, der bisher unter dem Namen Youth Lagoon elektronischen Dream-Pop veröffentlichte, geht mit „Mulberry Violence“ ähnlich forschend vor. Das Werk ist kompliziert und anstrengend zu hören, denn Abläufe werden mutwillig zerstört, wenn sie zu durchsichtig werden. Der Musiker bricht aber Experimente auch ab, bevor sie drohen, zum Selbstzweck zu werden.
Powers entwickelte sein neues Konzept, nachdem er Crashkurse in klassischer Musiktheorie belegte. Diese Weiterbildung führt dazu, dass es „Mulberry Violence“ zumindest nicht an Abwechslung mangelt. Die Musik muss jedoch erobert werden und eignet sich nicht als Sound-Kulisse für jede Gelegenheit. So kann das Hören zu einem die Sinne öffnenden Erlebnis oder zur falschen Zeit zu einer Nerv tötenden Angelegenheit werden. Auch der Gesang von Trevor ist gewöhnungsbedürftig: Er mag die hohen Tonlagen und bewegt sich deshalb manchmal fast im femininen Bereich. Er spielt also mit einer unklaren Geschlechterzuweisung, was für unterschiedliche Schattierungen sorgt, aber auch als künstlich aufgebauscht wahrgenommen werden kann. Das alles macht eine abschließende Bewertung nicht einfacher. Oder mit anderen Worten: Trevor Powers polarisiert.
Der Opener „XTQ Idol“ schmeichelt, knarzt, alarmiert und beunruhigt. Ständig wird die Richtung gewechselt, ohne dass dabei jedoch der Überblick verloren geht. „Dicegame“ besitzt eine schleifend-schreiende sowie eine infantile, eingeschüchterte Komponente. „Pretend It`s Confetti“ setzt wiederum auf eine verwirrende, abstrakte Art-Pop-Stimmung, die zwischen Klanginstallation und Schockbehandlung angesiedelt ist. „Clad In Skin“ hat seine Wurzeln im Electro-Swing. Trotzdem dürfte es das exzentrische Stück schwer haben, sich auf der Tanzfläche durchzusetzen. Leiernde und hell schimmernde asiatische Töne erklingen bei „Playwright“ und werden in einen nachdenklichen Pop-Song überführt.

Für „Film It All“ wird die stimmlich ausgedrückte Trauer, Verzweiflung und Wut teilweise durch einen Verzerrer oder Filter geschickt, was die jeweilige Emotion noch gequälter erscheinen lässt. „Squelch“ erzeugt eine ähnlich verstörende und beklemmende Stimmung. Aber bei „Ache“ schimmert dann Lebensfreude durch die sachliche Betrachtungsweise. Die gebrochene Ballade „Plaster Saint“ scheint sich nur mühselig, mit letzter Kraft fortzubewegen und durch die Streichinstrumente bekommt „Common Hoax“ dann eine erhabene und dramatische Note verpasst, die den Track aus der intimen Skurrilität hervor hebt.
Wie es sich für ein ehrgeiziges Werk gehört, steckt auch hinter „Mulberry Violence“ ein Konzept: Seit 2015 sammelt Trevor merkwürdige und verwunschene Sounds. Sie sollten eigentlich zur Vertonung seiner Gedichte dienen, die auf den Reisen quer über den Erdball entstanden. Diese Töne bildeten jetzt die Basis für seine Solo-Platte, die sich symbolisch um die Legenden rund um den Maulbeerbaum ranken. Dieser gilt in einigen Kulturen als Verbindung zwischen Himmel und Erde. Die Medizin, die seit über 5.000 Jahren aus den Blättern hergestellt wird, halten manche Menschen für Wundermittel oder sogar für den Schlüssel zum ewigen Leben. Dem Maulbeerbaum wird auch Weisheit als Eigenschaft zugewiesen, denn die Maulbeeren beginnen erst dann Knospen auszubilden, wenn die Frostgefahr vollständig gebannt ist. Deshalb gelten die Gewächse als geduldig und zurückhaltend. Das sind Attribute, die Trevor bei manchen Leuten vermisst. Er sagt dazu: „..Wir sind veränderlich und unruhig,…oft sind unsere Instinkte fehlgeleitet….Die Gewalt regiert und wir sind ihre Diener…“. Die Musik von „Mulberry Violence“ hält er für eine Schnittstelle zwischen der Stille und dem Grauen. Sie sei ein Dokument des ewigen Kampfes, der in uns tobt. Harmonie trifft dabei auf Krieg.
Es stellt sich letztlich die Frage, ob diese Kompositionen nur die überambitionierte Arbeit eines Möchtegern-Künstlers oder gelungener Art-Pop ist. Dies ist allerdings nur schwer zu beantworten, weil es lange dauert, sich diesen Klängen zu nähern. Auch nach dem zehnten Hördurchlauf gibt „Mulberry Violence“ immer noch Rätsel auf. Trevor Powers riskiert es, mit seinem schwierigen Kurs alte Fans zu verlieren und von neuen, potentiellen Interessenten nicht wahrgenommen zu werden. Solch eine Haltung erfordert Mut, Selbstvertrauen und eine stabile Überzeugung von der Qualität des eigenen Produktes. Deshalb ist Trevor Powers aber lange noch kein verkanntes Genie. Warten wir also erst einmal die weitere Entwicklung des Musikers ab und setzten uns konstruktiv mit „Mulberry Violence“ auseinander.

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