Lamb - The Secret Of Letting Go (2019)

Nach fünf Jahren Veröffentlichungspause gibt es mit "The Secret Of Letting Go" keine großen Überraschungen bei Manchesters Electronic-Duo Lamb.
Zwischen dem ersten Lamb-Album und dem aktuellen Werk „The Secret Of Letting Go“ liegen 23 Jahre und fünf Longplayer des 1994 gegründeten TripHop-Duos aus Manchester. Der Produzent Andrew Barlow ist schon immer für die elektronische Ausgestaltung der gemeinsamen Songs zuständig gewesen, die von der Sängerin Louise Rhodes beschallt werden. Bei Bedarf kommen zur Anreicherung des Sounds gerne Gastmusiker dazu, die den Songs genau wie die ungewöhnlichen Samples spezielle Eigenheiten und Kontraste verleihen. Das war schon auf der ersten Single „Cotton Wool“ aus 1996 so, die mit mehreren auffälligen, mutigen oder sogar provokanten Beiträgen bestückt wurde. Entlang der weiteren Veröffentlichungen entwickelte sich dieses Verfahren zu einem gewissen Markenzeichen des Klangs. Die Kompositionen erhalten dabei Bestandteile aus Techno und Drum'n'Bass genauso wie Jazz-, Folk-, Ambient- und Dschungel-Beat-Anleihen.
Louise singt mit der Robustheit einer Grace Slick (Jefferson Airplane) und der Wandelbarkeit einer Julie Driscoll (Brian Auger & The Trinity). Ihre Wurzeln liegen sowohl im Folk, wie auch im Soul und HipHop. Durch den Einfluss ihrer Mutter, die als Hippie-Folk Sängerin tätig war, kam sie schon früh mit dem Schreiben von Liedern in Berührung. Andy hat als Schlagzeuger angefangen und parallel auch das Keyboard für sich entdeckt. Neben Rhythmusgefühl bringt er also auch noch ein Gespür für atmosphärisch starke, füllende Sounds ein.
Vor fünf Jahren erschien mit „Backspace Unwind“ das letzte Lamb-Werk. Solch eine lange Wartezeit und Entwicklungsspanne kann beim Comeback zu neuen Einsichten oder Sound-Ideen führen, wenn in der Zeit eine kreative Reife stattgefunden hat. Manchmal werden aber auch nur alte Erfolgsrezepte zwecks Auffüllung des Kontostandes aufgewärmt. Das Duo führt zwar die Kombination ihrer bisher verwendeten Stilmittel fort, bewegt sich aber am Rande ihrer Ausdrucksmöglichkeiten nur vorsichtig voran, ohne die in der Vergangenheit erworbenen Tugenden und Erfahrungen über Bord zu werfen. Die Musik kann weiterhin überraschen, in die Irre führen, verrückt oder zärtlich sein. Es gibt auch unerwartete Wendungen oder der Song verläuft überraschenderweise in den begonnenen Strukturen und Abläufen weiter, obwohl sich Veränderungen angekündigt haben. Es bleibt also spannend, aber wichtig ist natürlich, ob die Tracks auch genug Substanz haben, um aufhorchen zu lassen, sich festsetzen und nachzuwirken.

„Phosphorous“ beginnt sakral und wandelt sich plötzlich zu einem feierlichen Pop-Song mit engelsgleichen Chören und weiträumigen Schwebeklängen. Deftige Bass-Linien lassen „Moonshine“ dröhnen. 
Break-Beats und HipHop-Gesang buhlen hier mit klatschenden Rhythmen sowie lieblichem Gesang, der sich gelegentlich in Opern-Arien-Höhen erhebt, um Aufmerksamkeit. „Armageddon Waits“ erweist sich als Wolf im Schafspelz. Verhält sich der Track zunächst noch zurückhaltend und abwartend, so übernehmen massive Geigen-Wände unerwartet das Geschehen und projizieren eine knisternd-geladene Stimmung, wie sie in spannenden Action-Filmen entsteht, an die Wand.
Billige, aufgesetzt knallige Effekthascherei, wie sie bei landläufigen Drum`n`Bass oder House-Music-Produktionen schon seit Jahren angewendet werden, verderben letztlich den Spaß an „Bulletproof“. Beim Lied „The Secret Of Letting Go“ scheinen die Noten teilweise zu springen wie ein Gummiball. Während sich dieses Ereignis abspielt und durch allerlei Nebengeräusche noch aufgebauscht wird, lässt sich Louise nicht aus der Ruhe und dem Konzept bringen und singt unbeirrt und stoisch ihre Verse zu Ende. 
Die ätherische Ballade „Imperial Measures“ zieht dann feierlich und entschieden seine Kreise, ohne von Dissonanzen aufgeschreckt zu werden.
Geheimnis- und verheißungsvoll geht es beim feierlich-erhabenen Electro-Pop „The Other Shore“ zu. Der als verkappter Electro-Swing beginnende Instrumental-Titel „Deep Delirium“ zapft bald darauf die freie Fusion-Jazz-Energie an, die „Bitches Brew“ (1970) von Miles Davis oder „The Inner Mounting Flame“ (1971) vom Mahavishnu Orchestra um John McLaughlin ausgezeichnet hat. Das mit gleichförmigen Rhythmen und Refrains ausgestattete „Illumina“ erzeugt trotz der maschinellen Takte durch den lieblichen und spirituellen Gesang menschliche Wärme. Das zerbrechliche „The Silence In Between“ verbreitet hingegen eine erhabene Schwere. Das Stück hat den Raum zwischen den Klängen zum Thema, obwohl es nicht total fragil oder spartanisch instrumentiert und arrangiert wurde. Die feierliche Atmosphäre von „One Hand Clapping“ verlängert die Melancholie von „The Silence In Between“ und beschert dem Album einen friedlichen, würdevoll-seriösen Ausklang.
Im Allgemeinen unterscheiden sich die beiden letzten Lamb-Veröffentlichungen bis auf die wenigen neuerlichen HipHop-Einlagen musikalisch gar nicht wesentlich voneinander. Das spricht zum einen für Kontinuität, zum Anderen zeigt es auch auf, dass kein einschneidender Änderungs- und Anpassungsbedarf erkannt wurde. Warum sollten auch gute und bewährte Ansätze aufgegeben werden, wenn keine Notwendigkeit dafür vorhanden ist? Louise Rhodes & Andy Barlow verwalten ihren seit 1996 kultivierten Umgang mit verführerischen oder beängstigenden Sounds, kruden Rhythmen und attraktiven Stimmband-Einschüben auf „The Secret Of Letting Go“ verantwortungsvoll und somit ist das Werk weder eine Offenbarung, noch eine Enttäuschung, sondern schlicht eine gute Rückmeldung geworden.

Erstveröffentlichung dieser Rezension: Lamb - The Secret Of Letting Go

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