Popol Vuh - The Essential Album Collection Vol. 1 (Wiederveröffentlichung: 2019)

„The Essential Album Collection Vol. 1“ beinhaltet wegweisende Platten der Krautrock-Legende Popol Vuh aus den Jahren 1970 bis 1978 auf Vinyl.

Florian Fricke war Gründer und Ideengeber der Krautrock-Gruppe Popol Vuh, die sich 1970 nach einem Buch aus der Maya-Kultur, das sich mit der Schöpfungsgeschichte beschäftigt, benannt hat. Fricke wurde 1944 in Lindau am Bodensee geboren. Sein Vater war eigentlich Opernsänger, aber als er 1945 aus dem Krieg kam, hatte er zwar die Bombardierung von Dresden überlebt, aber seine gesanglichen Fähigkeiten verloren. So wuchs Florian Fricke in einer polarisierten Welt auf, die auf der einen Seite die Traumata des Krieges aufzeigte und mit der 1968er-Bewegung auf der anderen Seite einen Neuanfang der Gesellschaft in Aussicht stellte. Florian galt früh als Wunderkind, denn schon mit 12 Jahren gewann er Klavierwettbewerbe. Später studierte er Musik in München und Freiburg, gab dieses Vorhaben aber auf, um nicht sein ganzes Leben lang Piano-Stücke üben zu müssen und sattelte als Musik- und Filmjournalist für die Süddeutsche Zeitung um. Als er mit seiner Frau Bettina Waldhausen einen neuen Wohnsitz in Miesbach im bayerischen Alpenvorland findet, ist dort der berühmte Dirigent und Produzent Eberhard Schöner sein unmittelbarer Nachbar und der besaß als einziger in Deutschland einen Moog-Synthesizer. Fricke war von den Möglichkeiten der großen Maschine begeistert und besorgte sich auch eine. Die Klangfunktionen boten ihm die Möglichkeit, seinen Vorstellungen von einer Musik, die nicht auf den Blues als Ausgangsbasis referenziert, Ausdruck zu verleihen.
Als Vorreiter war der Popol Vuh-Chef einer der ersten deutschen Musiker, der Synthesizer-Klänge einsetzte und sie auch auf einer Platte hörbar machte. Dieses Werk wurde „Affenstunde“ genannt, kam 1970 raus und bezog sich auf eine Sagen- und Legendensammlung der Azteken. Es enthält Naturgeräusche, konturloses kosmisches Zirpen und Säuseln und monotone Percussion-Beigaben. Die Aufnahmen sind eigentlich das Ergebnis eines Spieltriebs und leben vom Ausprobieren, Provozieren sowie Experimentieren. Deshalb hören sich die synthetischen Erzeugnisse auch oft wie ein Zufallsprodukt an und die Hypno-Töne von Holger Trülzsch hinterlassen den Eindruck, als seien sie bei einem Trommel-Workshop entstanden. Die Klänge machen dabei einen Spagat zwischen der Musik der Naturvölker und den Neuerungen des Weltraum-Zeitalters. Das Ergebnis ist allerdings durchaus verzichtbar, auch wenn es heute als Grundlagen-Arbeit in Sachen elektronischer Pop-Musik gilt und den Anstoß für andere Künstler gab, in eine ähnliche Richtung zu gehen (z.B. Tangerine DreamKlaus Schulze). „Affenstunde“ ist jedenfalls eine Platte, die für „The Essential Album Collection Vol. 1“ zur Wiederveröffentlichung ausgewählt wurde.

Diese Box wurde nicht chronologisch zusammengestellt, so fehlt die zweite Veröffentlichung „In den Gärten Pharaohs“ von 1972, die auch noch vom Synthesizer-Sound bestimmt wurde.
Aus dem gleichen Jahr stammt „Hosianna Mantra“, das komplett ohne elektronisch erzeugte Töne auskam, weil Florian Fricke inzwischen der Meinung war, sie wären schlecht für das Herz. Seine Beziehung zu Religions-Theorien prägten die neuen Tracks, welche sowohl Motive aus dem Alten Testament wie auch fernöstliche Einflüsse aufwiesen. Gegensätze spielen generell für die kompositorische Gestaltung eine gewichtige Rolle. Für „Ah!“ werden lebhaft perlende Piano-Töne mit ruhig singenden E-Gitarren-Passagen von Conny Veit zu gleichförmig sprudelnden und meditativen Klang-Landschaften verbunden.
Bei „Kyrie“ scheint das Klavier wie ein klarer Gebirgsbach zu plätschern. Die E-Gitarre spielt dazu jubelnd und klagend zugleich (wie Fricke die Tonfolgen einmal beschrieb), während ansonsten eine ausgleichende Stimmung vermittelt wird.
Die Gitarrenimprovisationen erinnern beim Titelstück an Grateful Dead und der sphärische Gesang von der südkoreanischen Sopranistin Djong Yun wie auch das Oboenspiel von Robert Eliscu, der der Avantgarde-Weltmusik-Gruppe Between um Peter Michael Hamel angehörte, entführen in übersinnlich durchflutete Ebenen.
„Abschied“ trägt dem Titel entsprechend sentimentale Züge, die durch eine liebliche, klare Oboe verstärkt werden. Mit den eingestreuten, schwirrenden Tönen einer indischen Sitar wird zudem eine exotische Stimmung verbreitet.
„Segnung“ enthält kompakte und filigrane Bestandteile, streift feingliedrige Klassik-Elemente, verarbeitet feinperlende E-Gitarren-Zutaten und spielt mit den Dynamikunterschieden von nachdenklichen und optimistischen Passagen.
Die kurzen, verbindenden Stücke „Andacht“ (Devotion I + Devotion II) führen diese Eindrücke weiter. Das anfangs beinahe körperlos wirkende „Nicht hoch im Himmel“ bekommt im Verlauf mehr Konturen verpasst und zeigt sich schließlich als minimalistisch aufgebautes Art-Pop-Projekt.
Beim Bonus-Track „Maria (Ave Maria)“ handelt es sich um eine rare Single der Sängerin Djong Yun, die konzeptionell und atmosphärisch genau zu den anderen Songs passt. Auch wenn das Album durch die religiösen Titel und verspielt-träumerische Sounds zunächst einen esoterischen, kopflastig-intellektuellen Eindruck hinterlässt, so kann die Musik doch durch visionären Charakter überzeugen.
Das nächste Album „Seligpreisung“ (1973) wird bei dieser Zusammenstellung übersprungen. Weiter geht es mit „Einsjäger und Siebenjäger“ von 1974, wo auch wieder Djong Yun zur Besetzung gehörte. Allerdings nur beim aus druckvollen und poetischen Facetten zusammengesetzten, fast 20minütigen Titelstück und beim mystischen, minimalistisch-psychedelischen Bonus-Track „Wo bist Du?“.
Neben Fricke an Klavier und Spinett ist noch der Gitarrist und Schlagzeuger Daniel Fichelscher von Amon Düül 2 zu hören. Dieser trägt die Stücke „Kleiner Krieger“ und „Morgengruß“ bei und fällt allgemein durch seine kräftigen Rhythmus-Beiträge und die grellen und klar strukturierten Gitarrentöne auf. Diese erinnern besonders bei „Würfelspiel“ an Mike Oldfield. Die Veröffentlichung ist insgesamt deutlich groovender, rockiger und dynamischer als seine Vorgänger. Der merkwürdige Name der Platte stammt übrigens von zwei Charakteren aus den Popol Vuh- Schriften.
Fricke verstand sich als Instinkt-Musiker, der intuitiv seinen Eingebungen folgte. Deshalb war die Zusammenarbeit mit dem Filmproduzenten Werner Herzog ein Gewinn für jeden der beiden kreativen Geister, die sich schon aus gemeinsamen Studententagen kannten. Herzog verschaffte dem Tüftler die Möglichkeit, seine Visionen ausleben. Sie beruhten darauf, hymnische Musik zu entwerfen, die auf spirituellen Erfahrungen basierten und in der Lage sind, den Kino-Bildern eine unergründliche Aura zu verleihen. 1971 begann die musikalische Ausgestaltung mit „Aguirre - Der Zorn Gottes“, in dem der exzentrische Klaus Kinski als Eroberer im 16. Jahrhundert das Goldland Eldorado im Urwald des Amazonas sucht. Der Streifen kam 1972 in die Kinos, aber erst 1975 erschien das dazugehörige Album von Popol Vuh. Es enthielt allerdings nur zwei Stücke aus dem Film („Aguirre I und II“), die durch die von einer Chor-Orgel erzeugten, prägenden sphärischen Stimmen auffielen.
Die restlichen Aufnahmen entstanden unabhängig vom Film zwischen 1972 und 1974. Darunter sind auch Alternativ-Versionen von „Morgengruß“ und „Agnus Dei“, die sich im Original auf „Einsjäger und Siebenjäger“ befinden. „Vergegenwärtigung“ ist das 15minütige Kernstück der Platte. Es handelt sich hier um ein unheimlich auf und abschwellendes Synthesizer-Gewaber mit Geistergesängen aus den Anfangstagen der Gruppe, das eigentlich noch besser zum „Nosferatu“-Soundtrack - einer weiteren Zusammenarbeit zwischen Fricke und Herzog - gepasst hätte.
Das sowohl romantisch gefärbte, wie auch jazzig-verspielte „Agnus Dei“ geht hingegen als „Hosianna Mantra“-Outtake durch. Wenn man so will, bietet „Aguirre“ insgesamt einen Überblick über die bisherigen, verschiedenen Schaffensperioden der Gruppe.
„Nosferatu“ von 1978 umfasst die vier Stücke, die schon auf der Platte „Brüder des Schattens, Söhne des Lichts“ (1978) veröffentlicht wurden, wobei das Titelstück hier etwa 13 Minuten kürzer ist.
Die anderen zehn Tracks stammen ursprünglich von der LP „On The Way To A Little Way“ und komplettieren diese Ausgabe. Diese Musik hinterlässt überwiegend einen sakralen, in sich gekehrten Eindruck. Das Eröffnungsstück „Brüder des Schattens, Söhne des Lichts“ mit seinen gregorianischen Chorgesängen und das durch ein schwirrendes Theremin irreal erscheinende „Die Nacht der Himmel“ liefern schöne Beispiel dafür, was Werner Herzog meinte, als er von Fricke „Angstmusik“ für den Soundtrack forderte. Der Track kann nämlich auch ohne die dazugehörigen Bilder die Stimmung von dunklen Verließen, verstörenden Vollmondnächten und gruseligen Begegnungen heraufbeschwören. Er hält aber auch Momente der Einkehr, der Hoffnung und des Lichts bereit. „Höre, der du wagst“ ist ebenso bewegend, vermittelt im Unterschied dazu Trostlosigkeit, ohne dass ein Hoffnungsschimmer am Horizont erscheint. Akustische Minimal-Art-Musik wie „Das Schloss des Irrtums“, der Progressive- und Raga-Rock-Hybrid „Through Pain To Heaven“, das an Avantgarde geschulte „To A Little Way“ oder das folkloristische „Morning Sun“ belegen noch einmal eindeutig die Vielseitigkeit von Popol Vuh.
Popol Vuh haben eine besondere Form von Ambient-Music entwickelt, die die Phantasie anregt, statt sich monoton auszubreiten. Stilistisch ist sie in etwa zwischen Jazz, Weltmusik und Progressive-Rock anzusiedeln. Florian Fricke bevorzugte es hingegen, seine Tonschöpfungen als schamanische Musik, Phantasie-Musik oder herzliche Musik, die unberührt, zärtlich und wild zugleich sein kann, zu bezeichnen. Dieser Sound hat viel Strahlkraft auf andere Musiker ausgeübt, wie z.B. auf Brian Eno, der 1978 mit seinem Werk „Music For Airports“ den Begriff Ambient für sanfte, beruhigende, elektronisch geprägte Klänge erst prägte.
Florian Fricke war Klang-Forscher, Entwickler einer spirituellen Atemtechnik für Sänger und Freigeist. Seine Kompositionen gaben Denkanstöße und sorgten für Initialzündungen, die die Musiklandschaft in Bewegung versetzte. Ob New Age, Weltmusik, Jazz oder Avantgarde - viele Stilformen nahmen sich seiner originellen Ideen an und trugen sie weiter und voran. Isoliert betrachtet klingt manche Musik heute gar nicht mehr so einzigartig, was aber alleine daran liegt, das viele der Ton-Erfindungen schon lange Einzug in die Musik gehalten haben und deshalb nun bekannt sind. Bis 1999 kamen über zwanzig Veröffentlichungen unter dem Namen Popol Vuh heraus. Es ist also noch Stoff für weitere Folgen der „Essential Album Collection“ vorhanden, die das Schaffen von Florian Fricke auf Vinyl in klanglich überarbeiteter Form verfügbar macht. Die Alben gibt es darüber hinaus auch als Einzel-CD, wobei die Booklets überall gleich ausgestaltet wurden und leider keine spezifischen Infos zu den jeweiligen Einspielungen enthalten. Der Musiker kann diese Aufarbeitung und Würdigung leider nicht mehr genießen, denn er starb Ende 2001 mit 57 Jahren in München an einem Schlaganfall.

Erstveröffentlichung dieser Rezension: Popol Vuh - The Essential Album Collection Vol. 1

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