Hvalfugl - Øjeblikke Vi Husker (VÖ: 25.09.2020)

 

Sind die Skandinavier die Kanadier Europas? Diese auf den ersten Blick merkwürdig erscheinende Frage drängt sich deshalb auf, weil kanadische Musiker häufig traditionelle, anerkannte Genres anders deuten als die dort schon etablierten Künstler. So klingen die Roots-Kompositionen von Blue Rodeo z.B. häufig etwas ausgefallener als die ihrer gleichgesinnten Kollegen aus den USA wie z.B. The Jayhawks, ohne deren Leistung schmälern zu wollen! Ähnlich ist es auch im Jazz. Vergleicht man die modernen Spielformen der sonstigen Kontinental-Europäer mit der Musik aus den skandinavischen Staaten, so sind deren Töne häufig an einem sphärisch-weitläufigen, Melodie-betonten Sound zu erkennen. Klarheit und Weite strömt oft aus diesen Klängen. 

Eigenarten, die aus dem Lebensstil, der Musikauffassung und der nationalen Kultur entstehen, manifestieren sich augenscheinlich in der Musik. Das ist auch beim dänischen Trio Hvalfugl (= Wal) aus Aarhus zu beobachten. 
"Øjeblikke Vi Husker" heißt das dritte Album der Formation und bedeutet "Momente, an die wir uns erinnern". Dreizehn davon erhalten eine Interpretation, die nicht nur von der Stammbesetzung, bestehend aus Jeppe Lavsen (Guitar), Jonathan Fjord Bredholt (Piano, Harmonium) und Anders Juel Bomholt (Bass), aufgenommen wurden. Auch die Gastmusiker Jakob Sørensen (Trompete), Lasse Jacobsen (Schlagzeug) sowie Gabriella und Rebecca de Carvalho e Silva Fuglsig (Cello) spielen eine gewichtige Rolle bei der klanglichen Ausgestaltung der ausgewählten Erlebnisse.

Gleich beim Opener "Snefald Over Fjorden" (Schneefall über dem Fjord) erhalten wir eine genaue Vorstellung davon, wie die Musiker Eindrücke aus der Natur in Töne umsetzen. Die kristallklare Trompete versetzt dem Stück eine angenehme Kühle und diese Noten tanzen sinnbildlich wie Schneeflocken über der ruhigen, melancholischen Melodie dahin. Das hat kammermusikalische Züge, wirkt entspannend, bleibt aber trotzdem anregend. Klingt paradox, ist aber so. Oder anders ausgedrückt: Man stelle sich Pat Metheney auf Valium vor, der auf Johann Sebastian Bach trifft, nachdem der psychedelische Pilze genossen hat.

Das Prinzip von Reinheit, verbunden mit melodischer Schönheit, setzt sich bei "Polardrømme" (Polare Träume) fort. Die sauberen E-Gitarren-Töne erzeugen unaufdringliche Minimal-Art-Muster und der Bass übernimmt phantasievolle Leitungs-Funktionen, die eigentlich von der Gitarre erwartet werden. Das Klavier träumt dazu einen wohltuenden Traum. Wo führt das hin? In eine gelassene Zufriedenheit, die den Geist wach und aufmerksam hält. "Funklende Blikke" (Funkelnde Blicke) setzt eine Dreifaltigkeit von Schwingungen um: Intellektuelles Improvisieren, melodisches Feingefühl und folkloristische Heiterkeit treffen hier zusammen. Das Cello-Duo sorgt dabei für den seriösen Rahmen, wobei die Ernsthaftigkeit nicht raumgreifend, sondern schmückend ist.

Hübsch, gesittet und leichtfüßig findet "Forglemmigej" (Vergessen sie mich nicht) seinen individuellen Weg in einer Mischung aus Pop-Verständnis, Jazz-Gedächtnis und Klassik-Gewissen. Die Umsetzung bleibt unverkrampft und ist so lässig umgesetzt, wie es nur irgendwie in dieser Kombination möglich ist. Gitarre und Bass bilden für "Fraktaler" (Fraktale = geometrische Muster) ein Ton-Gerüst, das einen Nachhall wie das allmähliche Verklingen von Kirchenglocken hinterlässt. Das Piano sorgt bei diesem Gebilde für das Fundament, auf dem ein festes Gerüst errichtet wird.

Was macht den besonderen Reiz aus, wenn man sich unter einem Viadukt befindet? Das man sich im Vergleich zu dem imposanten Bauwerk als Mensch klein und verloren vorkommt? Oder ist es das blanke Erstaunen über die technische Meisterleistung, die in der Konstruktion steckt? Wie dem auch sei: Die Musik zu diesem Ereignis versprüht bei "Under Viadukten" (Unter dem Viadukt) erhabene Demut und ehrfürchtige Bewunderung, indem sie zurückhaltende Eleganz und virtuoses Können ausstrahlt.

Auch wenn Hvalfugl mit "Sommereufori" (Sommer-Euphorie) dem klassischen Piano-Trio-Sound nahe kommen, so hat die Gruppe gegenüber einem Großteil der Konkurrenz einen erheblichen Vorteil: Bei ihnen steht beseelte Harmonie gleichberechtigt neben ungebremster Kreativität. Die Balance zwischen Leichtigkeit und Schwermut bleibt stets gewahrt, so dass der Hörer nicht überfordert, aber dennoch stilvoll unterhalten wird. Das Stück besticht nicht unbedingt durch Innovation, schafft es aber, durch Kontinuität einen Wiedererkennungswert zu schaffen.

"Dugvåde Asfaltstriber" (Tau-nasse Asphalt-Streifen) wurde als Ballade konzipiert, verbreitet Wehmut und besitzt mit der präzise und hell gespielten E-Gitarre ein Instrument, das für markante Farbtupfer sorgt. Der Einsatz des Harmoniums bringt in Teilbereichen eine spirituelle Sehnsucht in das Stück ein. "Regnen Falder Som Sne" (Der Regen fällt wie Schnee) bewegt sich auf verschlungenen Jazz-Pfaden, die sich durch wechselnde Tempi auszeichnen. Wobei der Track von einer leicht überblasenen, rauschenden Trompete begleitet wird, die grundsätzlich die Führung übernimmt.
Für "Lysning" (Spielraum) wird die funkelnde E-Gitarre mit Hall versehen, was ihr in diesem kurzen Intermezzo eine psychedelische Ausrichtung verleiht. Das Harmonium greift diese Tendenz mit wolkig-verschleierten Tonfolgen auf. Und als sich diese Komposition grade zu entwickeln beginnt, ist sie auch schon wieder vorbei. Schade. Oder bildet sie etwa die Einleitung zu "Vandrer Mig Til Ro", das mit seiner traurigen Grundstimmung und den dominanten Celli an die Paul Winter Consort zu Zeiten von "Icarus" (1972) erinnert?

Es bleibt wohlig, traurig und entspannt: "Hold Mig I Hænderne" (Halte mich in deinen Händen) sendet flehentlich-betrübte Signale aus, die zu Tränen rühren. So ergreifend sind sie und so empfindsam-überwältigend werden sie dargeboten. Wie die Adaption eines alten Volksliedes erscheint "Der Hvor Alting Ender" (Wo alles endet). Die Melodie hinterlässt einen altersweisen, bodenständigen Eindruck und die Instrumentierung sorgt trotz eines dominanten Bass-Solos für solide, urwüchsig-beständige Fundament.

Die Künstler von Hvalfugl bewegen sich stilistisch auf dünnem Eis. Solch sanft-verträumte Klänge können leicht in pseudo-intellektuellen Kitsch abrutschen, wenn Schönklang im Gewand von sauberer Instrumentenbeherrschung zum Selbstzweck wird. Aber die Skandinavier beweisen Fingerspitzengefühl und guten Geschmack. Die Musik ist recht eingängig, präsentiert aber dennoch einige auffallende Momente. Sie ist sensibel, ohne in Gefühlsduselei zu verfallen und sie nutzt traditionelle Elemente, ohne dabei bieder zu wirken. 

In dieser Form sind das Trio und ihre Gefolgschaft die Zukunft des Piano-Trio-Jazz, weil die Musiker statt in starren Strukturen zu verharren, lieber bewusst (oder unbewusst) in dem weiten Spektrum anspruchsvoller Unterhaltungsmusik wildern und sich dabei keine kompositorischen Ketten anlegen lassen. Natürlich haben sie bestimmte Wertschätzungen und Vorlieben entwickelt, die in etwa zwischen populärer Kammermusik, bewährter Folklore, atmosphärischem Jazz und kunstvollem Pop angesiedelt sind. Diese stellen aber nur einen grundsätzlichen Rahmen dar, der gerne gesprengt werden darf. Das macht die Musik so flexibel, frisch und freundlich. Es entstehen kurzweilige kultivierte Klänge, was ein schönes, angenehmes und seltenes Erlebnis ist.

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