Lost & Found-Portrait: Tim Buckley - Troubadour und Sternensegler.

Am 14. Februar 1947 wurde in Washington D.C. einer der innovativsten, begnadetsten und emotionalsten Sänger der Popmusik geboren. Die Rede ist von Timothy Charles Buckley III, besser bekannt als Tim Buckley. Er hat bislang noch jeden, der sich für anspruchsvolle, tiefgründige Popmusik interessiert, nachhaltig beeindruckt. Wenn man ihn einmal gehört hat, vergisst man seine einmalige, fünfeinhalb Oktaven umfassende, wandlungsfähige Stimme, die fesselnde, bitter-süße Töne hervorbrachte, nicht mehr. Oft hat dieses Erlebnis Hörgewohnheiten nachhaltig beeinflusst. Tim Buckley öffnet die Sinne für neue Wahrnehmungen, seine Musik berührt tief im Inneren und ist absolut zeitlos. 

Als ich vor Jahren an einem stressigen Seminar teilnahm und völlig geschafft im Hotelzimmer zur Entspannung den Fernseher einschaltete, lief grade eine Episode der „Monkees". Ich hatte diese TV-Serie als Kind immer gerne gesehen. Flotte powerpoppige Musik, gepaart mit Slapstick und Teenager-Geschichten machten Spaß. Bei den „Monkees" handelte es sich in den sechziger Jahren um die erste gecastete Pop-Band der Geschichte. Es wurden insgesamt 55 Folgen rund um den fiktiven Alltag dieser Pop-Band gedreht. Als Vorbild galt dabei der "A Hard Days Night'"-Film der Beatles. 

Im Hotel lief damals die letzte Folge der Serie von 1968, nicht mehr lustig, aber vollkommen durchgeknallt. Hippie-mäßig surreal, schrill und bunt. Am Ende kam dann die Ansage „This is Tim Buckley" und er erschien mit seiner zwölfsaitigen Gitarre, setzte sich, hielt seinen Kopf leicht schief nach links geneigt, die Augen fast geschlossen und zelebrierte eine Version des wunderschönen „Song to the siren". Dieses introvertierte, melodisch faszinierend aufgebaute Lied gehörte schon immer zu meinen Buckley-Favoriten. Ich hatte Tim bisher aber noch nie spielen gesehen, sondern kannte seine Erscheinung nur von den Plattencovern und aus Zeitungsartikeln. Und jetzt saß dieses Idol da, seine unbändigen Locken umspielten das markante Gesicht und es schien so, als spiele er nur für mich und seine unglaubliche Sensibilität nahm mich gefangen. Er war im TV erschienen, um mir den Tag zu retten, was ihm auch gelang. Ein magischer Moment. Wer den Monkees-Auftritt nachempfinden möchte, kann dies hier tun:
Tim Buckley wurde von Haus aus durch Musik geprägt, denn seine Mutter war Frank Sinatra und Miles Davis Fan. Tim hörte in seiner Kindheit gerne Johnny Cash und Bill Monroe. Als er 13 war - seine Familie lebte inzwischen in Kalifornien - lernte er zunächst Banjo, später dann Gitarre. Schon damals "trainierte" er seine Stimme. Er hörte eine Trompete, die in hohen Tonlagen spielte und versuchte, diese Noten zu erreichen. Das gleiche übte er für die tiefen Töne am Beispiel eines Bariton-Saxophons. Außerdem schrie und sang er gegen die Geräusche von Bussen an, was das Volumen und die Ausdruckskraft erhöhte. Neben der Musik faszinierte ihn auch Football. In der Highschool war er von 1952 bis 1964 Quarterback. Er trug dadurch Brüche in den Fingern der linken Hand davon, wodurch Finger verkrüppelten und er gezwungen war, sein Spiel auf eine individuelle Gitarren-Technik umzustellen. 

Trotz dieses Handicaps wurde die Musik seine Haupt-Passion. 1965 - Tim war grade 18 Jahre alt - trennten sich seine Eltern und er heiratete seine ehemalige Highschool-Mitschülerin Mary Guibert. Sie ist die Mutter seines Sohnes Jeffrey Scott, der ein Jahr später geboren wurde. Zu diesem Zeitpunkt waren Tim und Mary aber schon wieder geschieden. Tim spielte damals abends in den Clubs rund um Los Angeles in der Band „The Bohemians". Mit dabei waren seine Freunde Larry Beckett, der später viele Texte für ihn verfasste und Jim Fielder, der auch bei Buffalo Springfield Bass spielte und Gründungsmitglied von Blood, Sweat & Tears wurde. 

1966 hörte ihn Jimmy Carl Black, der SchIagzeuger von Zappas Mothers Of Invention und vermittelte ihn an deren Manager Herb Cohen. Dieser knüpfte Kontakte zu Jac HoIzman, dem Gründer von Elektra Records. Das Label war bis Mitte der sechziger Jahre hauptsächlich auf Folk-Sänger spezialisiert. Holzman hatte aber ein Ohr für Genre sprengende Talente und gab Tim Buckley einen Plattenvertrag. Und fortan war er unter den gleichen Fittichen wie Phil Ochs, Tom Rush, David Ackles, Love und The Doors. 

Sein Debüt aus dem Winter des selben Jahres, schlicht "Tim Buckley" betitelt, zeigt schon seine spezifischen Fähigkeiten und Besonderheiten.
Tim Buckley (album) - Wikipedia
Es ist komplexer arrangiert und instrumentiert als herkömmliche Folk-Alben. Die Songs haben variierende Tempi und eine facettenreiche Struktur. Tim singt im Gegensalz zu späteren Alben noch sehr diszipliniert, aber trotzdem leidenschaftlich und außergewöhnlich ausdrucksstark. Neben Beckett und Fielder stehen ihm weitere großartige Musiker zur Seite. Jack Nitzsche, musikalischer Tausendsassa, der später u.a. für die Rolling Stones und Neil Young tätig war, ist für die Streicher-Arrangements zuständig. Der Brian Wilson-Partner Van Dyke Parks steuert geschmackvolle Piano- und Cembalo-Parts bei. Die stilprägende Gitarre kommt von Lee Underwood. Jazz-geschult setzt er atmosphärische Duftmarken: Er spielt markant, vorwiegend in höheren Tonlagen, vermeidet aber aufdringliches Technik-Gefrickel. Schlagzeuger ist der versierte Billy Mundi, der u,a. bei Zappa, Fred Neil, Rhinozeros und später bei Dylan und John Martyn gespielt hat. Die Songs auf „Tim Buckley" sind wortreich und durchdacht, leicht psychedelisch („Song of the magician",
„Understand your man")
oder mal mit Ausflügen zum Balkan ausgestattet („Strange street affair under blue"),
aber im Kern konventionell zwischen barockem Folk und Rock aufgebaut. Spätere Großtaten lässt z.B. "Valentine Melody" erahnen. Mit klarer Tenorstimme intoniert Tim den Song. so dass man kaum atmen mag, um ja nicht die kristallklare Stimmung zu zerstören, die von dieser Ballade ausgeht.
Oder „Song slowly song", eine zarte, traumhafte, hingetropfte Komposition, über die Tims Stimme und Lees Gitarre schweben. Die Zeit scheint still zu stehen. 
Außerdem „She is" mit seiner majestätischen, fesselnden Melodie. Im Booklet-Begleit-Text heißt es so schön: Die Songs haben die Magie von japanischen Wasserfarben inne.
 
Auf seinem 2. Werk „Goodbye and Hello" von 1967 entwickelt Tim Buckley seinen Stil weiter. 
Goodbye and Hello [Vinyl LP] - Buckley, Tim: Amazon.de: Musik
Die Songs werden länger (bis über 8 Minuten) und abenteuerlicher. Larry Beckett erinnert sich: „Zu dieser Zeit verging kein Tag, an dem wir nicht Dylan hörten." „Highway 61 revisited" und „Blonde on Blonde" waren Inspiration und Ansporn zugleich. Neben Lee Undervood agieren auf dem Album noch die Gitarristen Brian Hartzler und John Forsha (Mitglied von The Stone Poneys, der Begleitband von Linda Ronstadt) und die Bassisten Jimmy Bond und Jim Fiedler wechseln sich prominent ab. Der Conga-Spieler und Percussionist Carter C.C. Collins sorgt neben Eddie Hoh (er spielte schon für die Monkees und mit Mike Bloomfield) am Schlagzeug für ein stabiles Grundgerüst. Dave Guard vom Kingston Trio an Kalimba und Tamburin sowie Don Randi (Akteur bei „Pet Sounds" von den Beach Boys) an den Tasten setzen instrumentale Feinheiten. Der Produzent Jerry Yester, Mitglied des Modern Folk Quartet und von Lovin` Spoonful fügt weitere Klang-Tupfer an Orgel, Piano und Harmonium bei. 

Das liest sich erstmal nach überladenem Sound. Ist es aber nicht. Die Akteure gehen mit viel Feingefühl zu Werke, so dass den Kompositionen genug Raum zum Atmen bleibt. Die Platte enthält 10 Musterbeispiele des Psychedelic-Folk: „No man can find the war" holt den Protest-Song aus seiner muffigen Traditionalisten-Ecke, wie es schon Phil Ochs praktiziert hat. Dieser Track beginnt mit einer Atombombenexplosion, die am Ende noch mal rückwärts abgespielt wird, als Symbol für die Forderung nach Beendigung des Wettrüstens. 
Der „Carnival Song" erzeugt mit Walzer-Rhythmus Kirmes-Atmosphäre und zeigt damit Parallelen zu „The Benefit of Mr. Kite" vom „Sgt. Pepper"-Album der Beatles. Ein Album, das Tim geliebt hat.
„Pleasant Street" ist ein fesselnder, aufwühlender Anti-Drogen-Song voll von hingebungsvollem Gesang. 
„Hallucinations" trägt seinen Namen zu Recht. Im Hintergrund sorgen gegen den Strich gebürstete Kalimba-, Gitarren- und Percussion-Sequencen für Störfeuer und erzeugen damit verwirrende Sounds.
Angetrieben durch schnelle Akustik-Gitarren-Riffs und energetische Conga-Unterstützung wühlt sich Buckley durch "I never asked to be your Mountain". In diesem Song versucht er die Trennung von seiner schwangeren Frau aufzuarbeiten. Er brauchte 21 Anläufe, um seine Ansprüche optimal umzusetzen, erst dann war die Aufnahme im Kasten.
„Once I was"
und „Phantasmagoria in two" 
sind zum Heulen schöne Balladen. Ein kleines barockes Zwischenspiel bietet "Knight-Errant",
bevor sich das über acht Minuten laufende, gesellschaftskritische, hypnotische, epische Titelstück langsam in die Hirnwindungen frisst. 
Es reflektiert die Konflikte zwischen der Jugend und der etablierten Gesellschaft. Versöhnlich wird das Album mit dem zarten "Morning Glory" beendet. Der engelsgleiche Hintergrund-Chor besteht hier nur aus den Stimmen von Tim und Jerry Jester, die im Multi-Tracking-Verfahren vervielfältigt wurden. 
Das Album kommt mit Hilfe massiver Promotion bis auf Platz 171 der U.S.-Billboard-Charts. Zumindest ein Achtungserfolg, der Tim aber ungeheure Insider-Reputation einbringt. 

Daraufhin bekam Tim Buckley die Möglichkeit, eine eigene Band zusammenzustellen. Sie bestand aus seinem Gitarristen Lee Underwood, Mister Conga-Drum Carter C.C. Collins, dem Jazz Vibraphon- und Marimbaphon-Spieler David Friedman (der u.a. bei Wayne Shorter von Weather Report aktiv war) sowie John Miller am Bass, der auch für Al Kooper und Todd Rundgren spielte. Diese Gruppierung wurde aufgrund ihrer Virtuosität auch The Modern Folk Quartett of Jazz genannt. Sie verdienten 5.000 Dollar pro Woche und spielten u.a. im Vorprogramm von Nico, Jefferson Airplane, Jimi Hendrix und Frank Zappa. 

1968 kam Tim Buckley auch nach Europa. Aus Kostengründen waren Collins und Miller nicht dabei. Am 10. Juli trat Tim in der Queen Elisabeth Hall in London auf. Als Bassist wurde Danny Thompson von Pentangle angeheuert, mit dem nur ein Nachmittag geübt werden konnte. Dieser Auftritt wurde mitgeschnitten und posthum 1990 als Doppel-CD veröffentlicht. Er zeigt einen konzentrierten, disziplinierten Tim Buckley, der wunderbare Versionen seiner Lieder spielt, dabei auch bisher unveröffentlichtes Material und als Bonbon seine Interpretationen von aktuellen Top-Ten-Hits präsentiert (hier sind es „You keep me hanging on" der Supremes und „Hi Lily, Hi Lo" von Alan Price). „Dream Letter: Live in London 1968" 
ist eines der spannendsten und abwechslungsreichsten Live-Alben der Pop-Geschichte geworden. 

Noch gereifter, eigenwilliger und selbstbewusster kommt das 1969er Werk „Happy Sad" daher. 
Tim Buckley hatte grade den Saxophonisten John Coltrane für sich entdeckt. Deshalb heben deutliche Jazz-Improvisations-Einflüsse dieses Album auch aus dem bisherigen Folk-Rock-Umfeld heraus. Da Larry Beckett zum Militär eingezogen wurde, schrieb Tim die Songs nun vollständig selber. „Happy Sad" ist ein mächtiges, in sich geschlossenes, innovatives Album geworden. Es hält perfekt die Balance zwischen Improvisation und Komposition. Das Zusammenspiel von Lee Underwood und David Friedman erzeugt eine einzigartige halluzinative Atmosphäre. Buckley schöpft mit seinem Gesang seinen vollen Oktavenumfang aus. Er ist dominant, nach vorne gemischt und dadurch Dreh- und Angelpunkt der Songs. Die Platte besteht nur aus sechs Aufnahmen. Der Opener „Strange Feelin`" gibt die Richtung vor: verspielte Gitarren-Parts und Vibraphon-Einschübe lassen kaum Rückschlüsse auf Tim Buckleys Folk-Vergangenheit zu. 
"Strange Feelin' " lehnt sich an Miles Davis' "All Blues' von „Kind of Blue" an. Melodisch ist die Komposition etwas ungelenk, was bei "Buzzin` Fly" besser funktioniert. Hier harmoniert die Melodik mit der Improvisation. Tim spielt seine harsche zwölfsaitige akustische Rhythmusgitarre, worüber Lee Underwood trockene, elektrische Akkorde legt. David Friedman untermalt das Ganze mit sinnesöffnenden Vibraphon-Einlagen. 
Das über 10minütige „Love from Room 109 at the Islander (On Pacific Coast Highway)" ist in 5 Abschnitte unterteilt und wird von immer wiederkehrendem, live aufgenommenen Meeres-Rauschen begleitet. Es wurde eingeblendet, weil der Tontechniker Bruce Botnick vergaß, die Rauschunterdrückung einzuschalten und nun dienten diese Frequenzen dazu, den Fehler zu neutralisieren. Das Stück ist eine Meditation in Moll mit unsterblich schönen Tonfolgen. 
Ein weiteres Wunderwerk ist der Song „Dream Letter": Lee Underwood und David Friedman eröffnen ihn mit klaren, hellen Gitarren- und Vibraphon-Sprengseln, dann setzt ein Cello ein und Tim ergänzt mit einer sehnsüchtigen, verschachtelten Melodie. Sie wird unterbrochen, aber Cello, Gitarre und Vibraphon improvisieren kurz weiter. Dann setzt Tim mit einer neuen Idee auf. So wird der Song stetig am Köcheln gehalten. Tim hat das Stück für seinen Sohn Jeff geschrieben. Er bedauert darin die Trennung von ihm und fragt sich, wie er sich charakterlich entwickelt hat. Im wahren Leben sahen sich Vater und Sohn nur einmal, als Jeff 8 Jahre alt war. 
Bei „Gypsy Woman" kommt Carter C.C. Collins mit seinen Congas das erste Mal ins Spiel. Er begleitet die anderen Band-Mitglieder bei einem sich rhythmisch und vom Tempo her steigernden Thema. Tims Gesang ist hier extrovertiert, teilweise überdreht laut. Insgesamt ist die Komposition mit über 12 Minuten zu lang geraten, da sie über keine tragfähige Melodie verfügt. Stilistisch passt diese improvisiert wirkende Nummer aber gut ins Konzept. 
Das Album schließt mit der sinnlichen Ballade „Sing a song for you", die wie ein Outtake von „Goodbye and Hello" klingt. „The Wind Covers me cold" singt er hier inbrünstig und man glaubt ihm sofort, dass er diese Empfindung kennen gelernt hat. 
Das Album war trotz der radikalen Weiterentwicklung ein Erfolg und erreichte Platz 81 der US- Billboard-Charts.
 
Die CD „Live at the Troubadour, 1969" gibt ein schönes Stimmungs-Bild der Konzertaktivitäten dieser Phase ab. 

1969 war ein kreativer Höhepunkt in der Karriere von Tim Buckley. Innerhalb weniger Wochen spielte er die Alben „Lorca" 
und „Blue Afternoon" 
sowie Teile von „Starsailor" ein.
 
Tim Buckley war aber erst am Anfang der Umsetzung seiner musikalischen Visionen angekommen. Bei "Lorca" experimentiert er nicht nur mit dem unkonventionellen Einsatz seiner Band - David Friedman war nicht mehr dabei, dafür kam John Balkin an Bass und Orgel - sondern erweiterte auch das Klangspektrum mit seiner Stimm-Gymnastik. Er singt nicht nur Texte, sondern setzt seine Stimmbänder wie ein Instrument ein. Die Musik macht den Eindruck, als dehne und zerre sie die Zeit. Eine Orgel spielt Dauer-Akkorde. Ein E-Piano setzt akustische Splitterbomben und Tim groovt sich in dieses Spektakel ein, klingt wie ein Manisch-Depressiver und lässt merkwürdige Taktarten spielen. Es entstehen Visionen wie im Fiebertraum. Zwischendurch wird zeitlupenhafter Folk-Jazz, wie bei "Driftin`" gereicht. Lee Underwood reiht dabei seine perlenden Töne wie auf einer Kette auf. Ein Trip in Noten, der durch das aufgekratzte „Nobody Walkin' " beendet wird. Jac Holzman stand aber nicht mehr hinter Tims Ideen und Entwicklungen. Er mochte „Lorca" einfach nicht, verlor das Interesse und kündigte den Plattenvertrag. Zuerst sollte „Lorca" gar nicht veröffentlicht werden, erschien dann aber 1970, etwa 4 Monate nach "Blue Afternooon", Tims erster Veröffentlichung auf dem Herb Cohen / Frank Zappa-Label „Bizarre/Straight".
 
"Blue Afternoon" stellte einen Kompromiss an sein neues Management dar und ist stilistisch im Fahrwasser von „Happy Sad" angesiedelt. Die Scheibe besteht aus acht Songs, die teilweise schon für die ersten drei Alben vorgesehen waren und jetzt von der Kern-Besetzung Underwood / Friedman / Collins nebst Gästen in ein neues Licht gerückt wurden. „Blue Afternoon" ist aber alles andere als ein Lückenfüller geworden, enthält es doch etliche hochkarätige Kompositionen. Das heftige „Happy Time" etwa. 
Oder das tieftraurige „Chase the Blues away". 
Auch das betörende „I must have been blind" 
oder das vollmundige, blumige „The River" 
und das entrückte „Blue Melody", welches von quälendem inneren Schmerz erzählt, stechen hervor. 
„Blue Afternoon" ist seit der Veröffentlichung aufgrund rechtlicher Wirrungen schwer bis gar nicht zu erhalten. 

War „Lorca" für viele Fans schon schwer zu verdauen, so überforderte "Starsailor", das Ende 1970 nachgeschoben wurde, die meisten von Buckleys Anhängern. Viele konnten oder wollten seiner rasanten kompromisslosen Entwicklung nicht folgen und so wurde das Werk ein kommerzielles Desaster. Zwar gab es auch überschwängliche Kritiken: Dass jazz-nahe Downbeat-Magazin vergab mit 5 Sternen die Höchstnote, aber die traditionelle Rock- und  Pop-Presse sah sich irritiert und kanzelte das Album als unhörbar ab. Tims Vokal-Akrobatik stieß viele Hörer vor den Kopf. Seine verschrobenen Arrangements wurden nicht verstanden. Er verwendet Laute, die wie Kisuaheli klangen, er gurgelte, grummelte, meckerte, röchelte und flehte, wie man es im Pop- und Rock-Gewerbe bisher nicht vernommen hatte. „Mit nichts kann man die Leute dermaßen schockieren - außer wenn ein Künstler sich auf der Bühne auszieht - wie mit jemandem, der keine Wörter singt. Das hat die Leute zu Tode erschrocken. Es war erfrischend," hat Buckley mal geäußert. Nur im wunderschönen, emotionellen Overkill "Song to the Siren" 
und beim kurzen Zwischenspiel „Moulin rouge" werden traditionelle Popmusik-Songformen benutzt. 
Das restliche Album besteht aus revolutionären, scheinbar frei assoziierten Song-Ideen mit abrupten Tempo- und Stimmungs-Wechseln. Buckley betätigte sich quasi als Forscher unentdeckter Sound-Welten. 
Bei der „Starsailor"-Tournee trieb er die Zuhörer mit der extravaganten Aufführung des Albums in Scharen aus den Konzerten. Er erfüllte keine Erwartungen seines Publikums. „Warum spielst du nicht „Buzzin' Fly"?", fragte ein Fan. „Warum spiele ich nicht Pferdescheiße..." entgegnete Buckley schroff. Er hatte zu diesem Zeitpunkt ein zwiespältiges Verhältnis zu seinen Hörern. Er redete davon, dass ein mündiges Publikum von einem Künstler erwarte, dass er sich weiterentwickle und konnte deshalb nicht nachvollziehen, dass es seine innovativen Bemühungen nicht honorierte. Er wollte jedenfalls nicht Erfolgsrezepte bis zur Selbstaufgabe widerkäuen und sich somit kreativer Lähmung unterziehen. Deshalb traf ihn der Misserfolg von „Starsailor" hart, trieb ihn in Depressionen und Drogenrausch. Er erhielt keine Engagements mehr und war nach 2 frustrierenden Jahren pleite.
 
Um wieder arbeiten zu können, ging Tim auf einen Deal ein: Statt weiterer Experimente nahm er ein Rock-orientiertes Album auf. Er tat das auf seine Art und so wurde „Greetings from L.A." 1972 rausgebracht - ein stampfendes, schweißtreibendes, offen mit sexuellen Anspielungen kokettierendes, groovendes Funk-rockiges Monster, welches aber immer noch nicht in die gängigen Konventionen passte. 
Zu ungestüm war der Gesang, zu ungezähmt die Rhythmen und zu ausgefallen die Melodien, um ein breites Publikum anzusprechen. Neben Einflüssen aus Soul, Funk und Blues enthält das Album mit „Sweet Surrender" einen der stimmigsten, durchkomponiertesten Titel seiner Karriere. Hieran kann man das ganze Phänomen Tim Buckley ausmachen: Tims Gesang lodert, Sinnlichkeit trifft auf Sensibilität und überschäumende Kreativität. Streicher unterstützen die Stimmung und werden im Verlauf des Songs gegenläufig eingesetzt. Der Song steigert sich so in einen soghaften Rausch. Er krempelte für die Aufnahmen nicht nur seinen Sound, sondern auch seine Begleitband um. Lee Underwood, der bisher unverzichtbar für die Umsetzung von Tims Klangkosmos schien, war nicht mehr an Bord.

Live zu hören gibt es die neue Besetzung (mit u.a. Joe Falsia an der Gitarre) auf dem Album „Honeyman", welches 1973 In der Radio-Station WLIR in New York mitgeschnitten wurde. 
Im Repertoire hatte er auch wieder Klassiker wie „Buzzin' Fly" und „Pleasant Street" sowie den Fred Neil-Titel „Dolphins", der auf seinem nächsten Album „Sefronia" von 1973 offiziell veröffentlicht wurde. 

Tim Buckley zeigte sich in dieser Phase zugänglicher, sowohl seinen Zuhörern gegenüber, wie auch gegenüber den Plattenfirmen, die ihm Vorgaben machten und versuchten, ihre Erwartungen an verkaufbare Musik durchzusetzen. Und so kam es, dass sowohl „Sefronia" wie auch "Look At The Fool" von 1974 größtenteils faule Kompromisse wurden. Tim Buckley konnte seine künstlerischen Fähigkeiten nicht mehr ausleben. Sein Material wurde zensiert und man versuchte, ihm das Spröde und Individuelle zu nehmen und ihn stromlinienförmiger zu machen. Was zu Lasten der Güte des Song-Materials ging. Auf „Sefronia" 
kann von den Eigenkompositionen letztlich nur das zweiteilige Suiten-artige Titelstück überzeugen.
Einige Nummern ("Honeyman", „Quicksand" und „Peanut Man") klingen wie halbherzig interpretierte „Greetings from L.A."-Outtakes. 

Bei „Look at the Fool"
das zunächst „Another American Souvenir" heißen sollte, gefällt nur das soulige Titelstück 
und das schwungvolle „Mexicali Voodoo''. 
Stilistisch verliert sich Tim Buckley im Niemandsland zwischen Charts-tauglichem Pop, mainstreamigem Rock und Blue-Eyed-Soul. Seine speziellen Talente treten nur noch eingeschränkt zu Tage. 

Persönlich ging es Ihm in dieser Zeit nicht schlecht. Er hatte seine Traumfrau geheiratet, ernährte sich bewusst, trieb Sport und hatte seinen Alkohol- und Drogenkonsum weitgehend unter Kontrolle. Auf Tourneen war er enthaltsam, danach gab es dann das eine oder andere Gelage. So auch am 28. Juni 1975 nach einem mit 1.800 Plätzen ausverkauftem Auftritt im Electric Ballroom in Dallas. Tim hatte sich betrunken und machte auf dem Weg nach Hause noch einen Abstecher zu einem Freund. Hier schnupfte er ein Pulver, welches sich später als ungestrecktes Heroin herausstellte. Sein Körper war darauf nicht vorbereitet, er kollabierte und wurde nach Hause gebracht. Als sein Freund sich nach ihm bückte, um sich nach seinem Zustand zu erkundigen, hörte er nur nach ein leises "Bye, bye, Baby". Danach verstummte seine großartige Stimme für immer. Tim Buckley starb mit 28 Jahren völlig verschuldet. Ihm gehörten nur noch seine Gitarre und ein Verstärker. Dabei hatte er noch große Pläne. So wollte er ein Live-Doppelalbum zusammenstellen. Außerdem beabsichtigte er, ein Konzeptalbum zu veröffentlichen, dass auf dem Joseph Conrad-Roman „An Outcast of the Islands" basierte. Ein ambitioniertes Projekt, welches Ihn aus seiner kreativen Durststrecke befreien sollte. 

Tim Buckley`s Tod löste zunächst keine riesigen Schlagzeilen und Plünderungen der Archive aus: Zu diesem Zeitpunkt war er nur eine Randerscheinung in einem sich ständig verändernden Markt. Erst 15 Jahre später erschien mit "Dream Letter: Live in London 1968" die erste posthume musikalische Archiv-Ausgrabung, der noch einige andere Konzert-Mitschnitte folgen sollten. 2007 gab es dann die erste offizielle Zusammenstellung von Film-Dokumenten auf der DVD „My Fleeting House"

Heute würde wahrscheinlich nicht mal mehr ein kleines unabhängiges Label Alben wie "Lorca" oder "Starsailor" veröffentlichen. Zu gewagt und provokant sind die Ideen und es gibt keine Schublade, in die man die Musik stecken kann. Tim Buckley hatte lange Zeit den Mut und die Gönner, um seine unangepassten Vorstellungen umzusetzen. Er schien ein Suchender gewesen zu sein, ein Getriebener, der nach dem Heiligen Gral des wahrhaftigen Sounds sucht. Seine Musik wirkt bis heute nach und findet immer mehr Bewunderer. 

Epilog:
Die Macht der Gene führte dazu, dass sein Sohn Jeff sein Talent geerbt hatte. Aber leider auch seinen Hang nach einem ausschweifenden Lebensstil. Bei der Arbeit zu seinem zweiten Studio-Werk „Sketches for my Sweetheart the Drunk" 
badete er am 29. Mai 1997 betrunken im Mississippi und ertrank dabei. Er war grade mal 31 Jahre alt.

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