Bell Orchestre - House Music

Instrumental-Musik umgibt häufig eine Aura der komplizierten Kopflastigkeit, der abgehobenen Intellektualität oder der unnahbaren Eliten-Kunst. Dabei ist es egal, ob es sich um Bereiche der Klassik, des Jazz oder der Minimal-Art handelt. Zwanglose Unterhaltung verbindet kaum jemand mit Tönen, zu denen nicht gesungen wird und nicht getanzt werden kann. Auch die sechsköpfige Formation Bell Orchestre gehört einer Gattung von ernsthaften Künstlern an. Das Kollektiv erschafft mit ihren Improvisationen Klanglandschaften, die zum Eintauchen und Zurückziehen einladen und trotzdem anregend und ungewöhnlich klingen. Es gibt etliche Etiketten, die dieser Musik angeklebt werden könnten: Post-Rock, Neue Musik, Ambient, Jazz, Avantgarde oder Weltmusik. Aber keines passt wirklich, es steckt vielmehr von Allem etwas drin. Bei den zehn Stücken des ersten Werkes seit 10 Jahren gibt es jedenfalls keinen eindeutigen Stil-Favoriten.

Die "House Music" wurde in 10 Phasen unterteilt, welche aufeinander aufbauen oder untereinander für Kontraste sorgen. Diese Errungenschaft kam spontan zustande, wobei die Ideen individuell weiterentwickelt wurden. So knallt uns das 30 Sekunden lange "I: Opening" panisch und unzusammenhängend als Mix aus natürlichen sowie verfremdeten Geräuschen und stilistisch nicht einzuordnenden Tönen um die Ohren. Für "II: House" wird das monotone Bass-Riff aus "I: Opening" nahtlos als Basis übernommen. Darüber gleiten silbrige Steel-Gitarren-Töne hinweg. Wie Vögel, die sich fast schwerelos von der Thermik treiben lassen. Erst nach über 2 Minuten setzen sowohl ein unruhiger Schlagzeug-Rhythmus wie auch eine galoppierende Geige ein, die das Stück zum Stolpern und Traben bringen. Bass und Steel-Gitarre lassen sich davon jedoch nicht in ihrer Ausgeglichenheit verunsichern.

Die schon aus "II: House" bekannte und am Square-Dance-Schwung orientierte Geige übernimmt bei "III: Dark Steel" spontan die Leitung. Sie wird später allerdings von dramatisch-weihevollen Bläser-Sätzen übertönt. Das Stück lässt langsame und schnelle Ton-Spuren mit- und gegeneinander ablaufen und erzeugt so eine lebhafte Atmosphäre, die von Anstrengung und Dominanzstreben geprägt ist. Schrille sowie dunkle, sich überlagernde Bass- und Percussion-Töne verursachen bei "IV: What You’re Thinking" ein geordnetes Chaos, das sich gegen Ende des Tracks in entfernt stattfindenden Explosionen entlädt und anschließend allmählich neu gestaltet wird.
Diese neue Ordnung formt sich aber erst im Verlauf von "V: Movement" zu einer vollständigen, meditativen, aber dennoch beweglichen Gestalt zusammen. Eine gestopfte Trompete übernimmt hier neben der obligatorisch weinenden Steel-Gitarre zwischendurch eine führende Rolle, wobei auch andere kurze Solo-Aktionen gewichtige Klangbestimmungen erlangen. Kurz rauscht sogar ein altes Broadway-Musical wie eine im Hinterkopf versteckte und frisch aktivierte Sound-Erinnerung vorbei. Und Stimmen sind zu hören, die wortlos wie ein versöhnlich verzierendes Instrument agieren.
"VI: All The Time" geht den grade eingeschlagenen Weg weiter. Der Track bekommt jedoch noch weitere exotische und eigentümliche Klangfarben verliehen, die ihn fremdartig erscheinen lassen. Wie Insekten summen, surren, schwirren und brummen verschiedene Töne in "VII: Colour Fields" herum, bevor wendig-schlaksige Schlagzeug-Takte, blubbernde und sirrende Synthesizer-Klänge und Breitwand-Bläser-Sätze das Stück stimmungsmäßig in schwindelnde Höhen entführen.
Die 7minütige Tondichtung "VIII: Making Time" lässt zunächst die hypnotische Bass-Figur aus "II: House" wieder aufleben. Der Track bleibt insgesamt undurchsichtig, unheimlich und undefinierbar. Die verwirrenden Klänge lassen mal an einen Alb- und dann wieder an einen Tagtraum denken. Die Instrumente wechseln sich in ihrer Wichtigkeit ab und Stimmen murmeln dazu in einem Lücken füllenden Singsang, so dass ein wogender Klangteppich entsteht. "IX: Nature That’s It That’s All" besinnt sich auf die Kraft der langsam fließenden, sich nur wenig ändernden Schwingungen, die in dieser Konstellation zu einer konzentrierten Ruhe führen können. Immer wieder treten Töne an die Oberfläche, die in moderater Lautstärke neue Eindrücke vermitteln und so schlängelt sich der Klang-Strom rücksichtsvoll auf- und abschwellend durch eine Landschaft von bizarrer Beschaffenheit dahin.
"X: Closing" läuft nahezu in sich gekehrt ab und sorgt so für einen entrückt wirkenden, versöhnlichen Ausklang der Platte.

Die Einspielungen für "House Music" entstanden während einer zweiwöchigen Isolation im Haus der Arcade Fire-Geigerin und -Sängerin Sarah Neufeld. Ihre Musiker-Kollegen Richard Reed Parry (Bass, Gesang, auch von Arcade Fire), Pietro Amato (Horn, Keyboards, Elektronik), Michael Feuerstack (Pedal-Steel-Gitarre, Keyboards, Gesang), Kaveh Nabatian (Trompete, Gongoma, Keyboards, Gesang) sowie Stefan Schneider (Schlagzeug) wurden in dem mehrstöckigen Haus auf mehrere Zimmer und Etagen verteilt, wobei der Toningenieur Hans Bernhard für die Verständigung und den guten Ton sorgte. 

Obwohl die Musiker jeden Tag ihre Ideen aufnahmen, basiert das 45-minütige "House Music"-Album auf einer 90-minütigen Improvisation, die behutsam bearbeitet und zu einem möglichst organisch fließenden Werk verdichtet wurde. So entsteht der Eindruck, es handele sich insgesamt um ein einziges Stück mit verschiedenen Klangmustern, die intuitiv ausgearbeitet wurden. Die Musiker haben sich erstaunlich gut untereinander abgestimmt. Und das, obwohl sie sich bei den Aufnahmen nicht sehen konnten. Dafür ist schon ein gutes Gespür füreinander nötig. Herausgekommen sind Sounds, die wie eine klassische Symphonie Beweglichkeit, Dynamik und Überraschungselemente so miteinander verbinden, dass am Ende ein schlüssiges Ganzes entsteht. Das hat auf beachtliche und erstaunliche Weise funktioniert und zu verschachtelter Musik mit speziellem Charakter geführt. Ganz in der Tradition solcher Bands wie Magma, Tortoise oder Penguin Cafe (Orchestra).

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