Penguin Cafe - Handfuls Of Night (2019)

Wenn Kunst mit Pop verwirbelt wird, entsteht der Sound des Penguin Cafe auf "Handfuls Of Night".
Simon Jeffes hatte 1972 nach einer Fischvergiftung eine Halluzination, die zu einer musikalischen Vision führte. Der 1949 in England geborene Komponist und klassischer Gitarrist erkannte dadurch die Wichtigkeit von Zufall und Spontanität für seine Arbeit. Er strebte deshalb an, in Zukunft ohne innere Unruhe leben zu wollen, was sich positiv auf seine Kreativität und Kompositionstechnik auswirken sollte. Die herrschenden Strukturen in der klassischen Musik und die Trend-Vorgaben des Pop und Rock wollte er ignorieren, um so ohne Zwänge seinen Vorstellungen von erfüllenden Klängen näher kommen zu können.
Das Ergebnis dieser Überlegungen mündete in der Gründung des Penguin Cafe Orchestra. Einem Instrumental-Ensemble, das sich im Grunde genommen nach einem neuen Mix von Ambient, Minimal-Art, Jazz, Weltmusik, Pop und moderner Klassik anhört. 24 Jahre lang führte Simon Jeffes diese Gruppierung, bis er 2007 an einem Hirntumor starb. Zwei Jahre später trat Simons Sohn Arthur in dessen Fußstapfen und rief die Nachfolge-Formation Penguin Cafe ins Leben. Obwohl viele Elemente und Ideen des Vaters beibehalten wurden, legt Arthur Wert darauf, nicht nur sein Andenken zu bewahren, sondern auch eigene Vorstellungen in das Grundverständnis des Pinguin-Sounds zu integrieren, was die bewährten Klang-Landschaften noch differenzierter klingen lässt.
Das erste Penguin Cafe-Werk beschäftigte sich 2011 mit der Frage des Lebens („A Matter Of Life“). Nach „A Red Book“ von 2014 und „The Imperfect Sea“ (2017) folgen jetzt tongewordene Eindrücke einer schon 2005 angetretenen Expedition auf den Spuren des Polarforschers Robert Falcon Scott (*6. Juni 1868, † 29. März 1912), der übrigens in erster Ehe mit der Urgroßmutter von Arthur Jeffes verheiratet war. So schließt sich auch der Kreis zwischen Namensgebung und Inspiration, weil Arthur im Auftrag von Greenpeace vier Stücke über die unterschiedlichen Pinguin-Arten der Antarktis entwerfen sollte („Chinstrap“ über Zügelpinguine, „Adelie“ über Adelie-Pinguine, „The Life Of An Emperor“ über Kaiser-Pinguine, „Gentoo Origin“ über Esels-Pinguine), um auf die Gefährdung der Antarktis und die Schönheit der Tiere aufmerksam zu machen. Das war im Herbst 2018 der Startschuss zur Entstehung von „Handfuls Of Night“.
Die bei „Winter Sun“ über Schwebeklänge verspielt und minimalistisch ausgebreiteten Piano-Akkorde strahlen tatsächlich Eindrücke von klirrender Kälte und hellen, weiten Landschaften aus. Für „Chinstrap“ werden dann tanzend-weiche, halbdunkle Töne in den romantischen, mit singenden Streichinstrumenten unterlegten kammermusikalischen Jazz gespült. Trotz der vermittelten Entspannung scheint „Chapter“ ein mysteriöses Geheimnis zu bewahren 
und die meditative Entschleunigung von „Adelie“ wird durch einen gegenläufigen Kontrabass bewusst gestört und in Frage gestellt.
Das Piano wiederholt bei „At The Top Of The Hill, They Stood...“ flehend seine werbenden Tonfolgen und brummende Streicher gehen nach einer Weile sanft und mitfühlend darauf ein. Das Harmonium erzeugt ergänzend hoffnungsvolle Klänge und ein aufmunternder Takt gesellt sich plötzlich auch noch dazu. Das Stück bewegt sich sozusagen von der Einsamkeit hin zur Gemeinschaft. Ein Besetzt-Zeichen eines Telefons gibt für „Pythagoras On The Line Again“ einen ungeduldigen Takt vor, der von elektronischem Blinken zeitweise adaptiert wird. Die akustischen Instrumente lassen sich davon aber nicht anstecken und ziehen gemächlich ihre Bahnen. So entstand eine verlockende, widersprüchliche Atmosphäre.
„The Life Of An Emperor“ gestaltet sich als weitläufige Klangebene, bei der nur wenige Ereignisse von dem sowieso schon monumental erscheinenden Eindruck ablenken. Bei „Gentoo Origin“ kämpfen die Rhythmen um die Vorherrschaft. Sie arrangieren sich jedoch letztlich mit den verhalten agierenden Saiteninstrumenten und gehen eine harmonisch-belebte Symbiose miteinander ein. Das abschließende „Midnight Sun“ greift die Melancholie des eröffnenden „Winter Sun“ auf, wirkt aber als Piano-Solo-Stück noch fragiler. Die Musik ist so feinfühlig, dass man kaum zu atmen wagt, um nicht die intim-sensible Stimmung zu stören.
Mit akustischen Instrumenten wie Violinen, Bratsche, Cello, Kontrabass, Percussion, Klavier und Harmonium sowie familiär verschmolzenen elektronischen Zutaten erzeugen Arthur Jeffes und seine Kollegen Sounds von erhabener Schönheit und ergreifender Demut. Die Macht der Stille, die Attraktivität der Transparenz und die Ästhetik des instrumentalen Zwiegesprächs kommen dabei zum Vorschein. Die Tongebilde sorgen für entspannte Stimulationen jenseits von esoterischem Gesäusel oder intellektueller Selbstdarstellung. Der Sound des Penguin Cafe ist zu einem Markenzeichen mit hohem Niveau geworden. Er entzieht sich geschickt der Einteilung in Kategorien wie Unterhaltungs- oder ernste Musik, sondern steht für sich selbst.

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