ACUA - Is There More Past Or More Future

Was ist Wirklichkeit, was ist Halluzination? Bei ACUA verschwimmen die Perspektiven.
Eine Frage, die sich wahrscheinlich jeder Mensch einmal stellt, ist: "Habe ich mehr Lebenszeit hinter mir oder noch vor mir?". Diese Überlegung steckt offenbar hinter dem 2022er-Albumtitel "Is There More Past Or More Future" von ACUA, der psychedelischen Pop-Band aus Köln, die aus Patrick Braun (Gesang, Gitarre), Caroline Prinz-Holtorf (Gesang, Schlagzeug) und Igor Franjić (Bass, Synthesizer) besteht.
Credit: Jennifer Friedrich
10 neue Songs hat das Trio nun nach "Head Under Water" von vor zwei Jahren im Gepäck, mit denen sie uns in ihre zeitlos aktuelle musikalische Zone entführen möchten, in der Begriffe wie Vergangenheit und Zukunft keine Bedeutung zu haben scheinen. Denn die Gegenwart fordert schon unsere volle Aufmerksamkeit, um die Musik in allen ihren Facetten zu erfassen und gebührlich würdigen zu können.

Bei "Help Me Up" schwirren Sitar-ähnliche, monoton wiederholte Klänge herum, die von dumpfen Trommeln und einem hüpfenden Bass flankiert werden. Dieses anmutige Minimal-Art-Geschehen wirkt gar nicht intellektuell steif, sondern beschwingt und munter. Wenn dann noch die sympathisch verdrehten Gesänge von Caroline Prinz-Holtorf und Patrick Braun sowie eine freche E-Gitarre und saftig-spritzige Schlagzeug-Attacken dazugeschaltet werden, ist er fertig, der intelligente, zum konzentrierten Zuhören animierende Pop-Song. Als hätten sich Brian Wilson (Beach Boys), Andy Partridge (XTC) und Todd Rundgren zu einer gemeinsamen Session getroffen. Brillant!
Ein leiernd fiepender Synthesizer in Verbindung mit einer Gitarre, die launige Riffs absondert und einem Bass, der sich grummelnd in den Vordergrund schiebt, verspricht bei "Something Less Affected" zunächst ein rauschhaft-schräges Vergnügen. Dann übertönen ein agiles Schlagzeug, der abgeklärte Gesang von Patrick Braun und flirrend-schwirrende Background-Sounds die undurchsichtig erscheinende Stimmung und geben dem Song einen coolen Power-Pop-Anstrich. Aber der hält auch nicht lange, weil das Tempo total rausgenommen wird, denn Caroline streut zwischendurch zarte folkloristische Töne ein. Danach kommt der Power-Pop-Express wieder in Gang und der Track klingt kraftvoll und verschachtelt aus. Originell!
Bei "It’s Raining" ist der Synthesizer auf Krawall gebürstet, ständig funkt er mit alarmierenden Lauten dazwischen. Die Percussion-Instrumente interessiert das nicht, sie ziehen stoisch ihre monoton-hypnotischen Bahnen. Die Stimmen verteidigen den melodisch-romantischen Rahmen des Stückes, das im Kern eigentlich eine Ballade ist. Im Kampf gegen die Konventionen haben ACUA einen Sieg errungen, denn trotz oder grade wegen des ungewöhnlichen Verlaufs ist ein beeindruckendes Lied gelungen. Das Ergebnis ist gewichtiger als die Summe seiner Teile.
Künstlich erzeugte Exotik trifft für "What Will They Think About You" auf kunstvolle Jazz- und druckvolle Rock-Geräusche. In diesem prickelnd-wimmelndem Gebräu lassen sich die Stimmen nicht aus ihrer ursprünglichen Pop-Song-Komfortzone locken und sorgen für Stabilität. Ein Loblied auf die inspirierende Wirkung von Gegensätzen!
Der "Ghost Train" nimmt Fahrt auf, das Ende der Reise bleibt jedoch im Ungewissen. Die Geister, die hier gerufen werden, finden sich in einem unruhigen New Wave-Sound-Gerüst wieder, dem gesanglich wohlig-wattige Harmonien entgegengesetzt werden. Die menschliche Stimme ist eben ein vielfältig einsetzbares Instrument von suggestiv-betörender Wirkung.
Eine zerrende Feedback-Gitarre und ein selbstbewusster Bass leiten "Stay High" ein, wodurch der Track bedrohlich und aggressiv wirkt. Der teils kecke, teils berauschte Gesang sowie der aufsässige Synthesizer halten die Stimmung am Köcheln, so dass der Song dem Punk näher ist als der psychedelischen Folklore.
Der zuletzt genannte Ausdruck trifft auf "Let’s Be Quiet" zu, das gleichzeitig dem Easy Listening, dem Jazz und dem Art-Rock huldigt. Die Stimmen erzeugen Minimal-Art-Loops und geben hymnische Schwingungen ab, wodurch in Summe bewusstseinserweiternde Klang-Folgen entstehen, die sich als Neo-Folk manifestieren. Gelobt sei, was Spaß macht!
"Coexist" sucht nach einer Symbiose zwischen Progressive- und Soft-Rock und findet sie, weil sich die Töne wie selbstverständlich ergänzen und eine tolerante Beziehung eingehen. Love Is All You Need!
Für "Orange World" wird ein Psychedelic-Pop-Strudel genüsslich über 7 Minuten ausgedehnt. Das Stück erscheint zunächst statisch, entwickelt sich aber nach und nach zu einem unwiderstehlich mitreißendem Monster-Track. Geduld zahlt sich eben aus!
Das titelgebende "Is There More Past Or More Future" verhält sich zunächst kindlich-verspielt, bekommt aber nach drei von viereinhalb Minuten plötzlich einen eruptiven Energieschub verpasst, so dass das Lied einen kontroversen Eindruck hinterlässt und so die Grundidee der Kompositionen, nämlich auf Kontraste zu vermitteln, fortsetzt. Konsequenz zahlt sich eben aus!

Die Bezeichnung ACUA hat mehrere Bedeutungen, die mit Wasser zu tun haben, wie zum Beispiel "Advisory Council on Underwater Archaeology", das ist ein internationales Gremium, das sich mit Fragen zur Unterwasserarchäologie beschäftigt oder der "Açuã -Fluss" (portugiesisch: Rio Açuã ), ein Nebenfluss des Mucuim, der sich im Nordwesten Brasiliens befindet. Der Bezug des Trios ACUA zum Wasser ist unübersehbar, denn auf der Band-Webseite findet man den Hinweis: "Wenn du deinen Kopf unter Wasser hältst, wird alles still und du hörst nur noch dich selbst."

Eine schöne Beschreibung dafür, dass es ein Zeichen von Lebensqualität ist, wenn es gelingt, ganz in der Gegenwart präsent zu sein und nicht der Vergangenheit nachzutrauern oder vor der Zukunft Angst zu haben. Denn egal, ob bei unserer Lebensuhr schon die erste Halbzeit abgelaufen ist oder nicht, jeder Tag ist wichtig und "Is There More Past Or More Future" hilft dabei, die Gegenwart etwas schöner zu gestalten. 

Das Album bietet Qualitäten, die auch dann zünden, wenn man bisher mit psychedelischer Musik nichts am Hut hatte. Die Stimmen von Caroline Prinz-Holtorf und Patrick Braun ergänzen sich, grenzen sich voneinander ab, vertragen sich oder stehen in Konkurrenz zueinander. Der Einsatz des Gesangs ist durch Flexibilität geprägt, wobei die Intensität der Kompositionen über die jeweilige Emotion gesteuert wird. Jede denkbare Charakteristik scheint möglich zu sein. ACUA sorgen dafür, dass die Ideen nicht in einem intellektuellen Dschungel verloren gehen, sondern im Hier und Jetzt für geistreich-spaßige Unterhaltung sorgen. Große Klasse!

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