Thilo Seevers - Auszug

Ein Mann. Ein Piano. Eine Leidenschaft.

Solo-Piano. Ein Mann und sein Instrument werden eins. Nicht nur, welche Töne angeschlagen werden spielt eine Rolle, sondern auch in welcher Form sie die Welt bereichern: Mit hartem oder weichem Anschlag, einzeln oder im Verbund. Schnell oder langsam. Das alles sind Variationsmöglichkeiten, die das Stimmungsbild beeinflussen und den Hörer auf den Titel einstimmen können. Die Titel der Stücke sind in der Instrumentalmusik dabei eigentlich nur Markierungen, man kann sich auf sie einlassen oder den eigenen Assoziationen folgen.

Thilo Seevers wurde 1993 in Bremen geboren und begann mit fünf Jahren Klavier zu spielen. Was liegt da näher, sein erstes Solo-Werk "Auszug" audiophil im ehemaligen Sendesaal von Radio Bremen aufzunehmen. Dieses Gebäude ist bekannt für seinen außergewöhnlich guten Klang, wird aber nicht mehr vom Sender betrieben und sollte sogar abgerissen werden. Es fanden sich zum Glück engagierte Retter, die einen Verein gründeten, um den Saal weiter für Veranstaltungen nutzen zu können.

Das Zitat von Frédéric Chopin: "Einfachheit ist die höchste Errungenschaft" ist ein Leitmotiv von Thilo Seevers. Das klingt nach Reduktion. Im Beispiel von "Auszug" gibt es zumindest eine Reduzierung auf zwei spielende Hände. Aber was bedeutet "Auszug" in diesem Zusammenhang? Ordnung im Sinne einer Schublade? Der Auszug aus einer bekannten Umgebung im Sinne von Weltoffenheit? Oder, dass hier nur ein kleiner Teil der Möglichkeiten, die die Musik über hunderte von Jahren geboten hat, als Vorlage einfließen konnten. Die Näherungs-Erklärung auf der Homepage des Musikers bevorzugt die beiden letztgenannten Blickwinkel und im Booklet wird noch eine weitere Deutung offenbart: "Auszug" steht auch für den Hang von Thilo Seevers, seine Komfortzonen verlassen zu wollen, um sich bewusst dem Neuen und Unbekannten zu öffnen. Von Bremen aus führte es ihn nämlich schon nach Brasilien, Schweden und nach Berlin, wo er zurzeit lebt.

Mit diesem theoretischen Rüstzeug geht es in die akustische Wahrnehmung: Töne fallen eisig wie Schneeflocken vom Himmel. Es ist eine klare Nacht. "Wie schön leuchtet der Morgenstern" fängt eine Idylle ein, die Anmut, Demut und Fantasie ausdrückt. Die Originalkomposition stammt von Philipp Nicolai, der von 1556 bis 1608 lebte. Der Neuinterpretation hört man das Alter des Ursprungs allerdings nie an, weil das Lied zeitgenössisch transformiert wurde.

Das Nachtleben kann glitzernd, pulsierend, laut und hektisch sein. Das sind alles Aspekte, für die "After Dark" eine Deutungshoheit beanspruchen kann. Aber auch Lieblichkeit und Zufriedenheit spielen 
bei diesem Emotionscocktail eine Rolle.
 
Der Kämpfer für die Entrechteten aus dem Sherwood Forest heißt Robin Hood. Hier haben wir es bei dem Stück "Robin Hoode" mit einer altertümlichen Schreibweise zu tun, denn die Originalkomposition datiert aus dem 16. Jahrhundert von einem Mr. Ascue. Trotz Grabesstimmung vermittelt der Track zuweilen Ermunterung und sogar Trotz. Er lässt stilistisch keine Unterschiede zwischen Klassik und Jazz zu. Und plötzlich sind da glockenhelle Töne, die nicht aus dem Steinway Piano stammen können. Es klingt, als ob ein Vibraphon für klare Einsichten sorgen würde, es ist aber eine Celesta, die hier frische Noten bereithält.

Die "Port Townsend Bay" ist eine Meeresbucht, die im US-Bundesstaat Washington liegt. Die Stadt Port Townsend hinterlässt durch ihren viktorianischen Baustil eine gemütlich-bürgerliche Stimmung. Thilo Seevers vermittelt bei dem Stück Assoziationen, die an solch eine unbekümmerte Lebensart denken lassen.

Adaptionen romantischer Klassik in Verbindung mit Jazz-Improvisationen prägen "Rainflow". Bei dem Stück lässt Seevers im Hintergrund einen leisen Dauerton mitschwingen, der der Atmosphäre etwas Minimal-Art-Ewigkeit mitgibt. Inspiriert wurde der Track von Györgi Ligetis "Musica Ricercata", einer dynamischen Klavier-Komposition, bei dem sowohl Stille und Ruhe wie auch Dramatik und Wucht eine Rolle spielen.

Für "Metropole bei Mitternacht" erschafft Thilo Seevers Töne, die tatsächlich Dunkelheit ausdrücken. Für den Musiker gibt es bei dieser Betrachtung keinen Trubel in der Nacht, er fängt eine Stimmung ein, in der sich das Individuum in den anonymisierenden Schoß des ständig pulsierenden Lebens begibt, ohne daran beteiligt zu sein. Erstaunlicherweise fand Seevers den Anstoß zu dieser Idee ausgerechnet in Berlin, wo er Stille genoss. Schön, dass es in dieser lärmenden Metropole auch noch solche Orte des meditativen Rückzugs gibt. 

Sertanejo ist ein brasilianischer Musikstil, der in den 1920er Jahren entstand. Seit den 1990er Jahren wurde dieses Genre kommerzialisiert und ist dadurch wieder sehr beliebt geworden. Die aktuelle Variante wird auch als die Country-Musik Brasiliens bezeichnet. Bei "Lamento Sertanejo" handelt es sich allerdings um die Einverleibung eines gleichzeitig kräftig instrumentierten, aber auch traurigen Bossa Nova von Gilberto Gil und dem Akkordeonspieler Dominguinhos aus dem Jahr 1975. Thilo konserviert die darin vorkommende Wehmut und garniert sie mit wenigen
 wuchtigen und störrischen Ausbrüchen.

"Kyiv" ist eine andere Schreibweise für "Kiew", der Hauptstadt der Ukraine, die ein Symbol für Widerstand und Durchhaltewillen geworden ist. Das Stück zeichnet eine kunstvolle, pulsierende, lebensfrohe Sicht auf die Stadt, die hoffentlich bald wieder Einzug in das tägliche Leben nehmen kann. Auch wenn sich etwas Melancholie auf die Noten legt, so überwiegt doch die Hoffnung, denn die stirbt ja bekanntlich zuletzt. 

In diesem Sinne ist der Nachspann "Epilog: Look For The Silver Lining" mehr als nur die Suche nach dem Silberstreif am Horizont. Diese 10 Minuten gehören dem Anstand, der Vernunft und dem Streben nach einem besseren Leben im friedlichen Zusammensein. 
Entsprechend gibt es bei der Musik nachdenkliche und auch turbulente Momente. Thilo Seevers zündet jedenfalls ein Feuerwerk der Ausdrucksmöglichkeiten auf dem Piano ab. Den Song kannte der Pianist vom ergreifenden Album "Chet Baker Sings" aus 1954 und er steht stellvertretend für die Zuversicht. Die Zeilen "Always look for the silver lining, try to find the sunny side of life" berührten Thilo Seevers sehr, weshalb unbedingt eine Version auf "Auszug" erscheinen musste.

Auf der Spotify-Playlist des Pianisten, Komponisten und Arrangeurs Thilo Seevers finden sich unter anderem Klassik-Werke von Debussy, Schubert, Grieg, Mendelssohn, Satie und Mozart, Jazz von GoGo Penguin und Brad Mehldau und Alternative-Rock von TV On The Radio oder den Grandbrothers. Das zeigt sein weit angelegtes musikalisches Interesse, das sich natürlich auch in seinen Interpretationen und Kompositionen punktuell niederschlägt. Jazz und Klassik mehr, Alternative-Rock weniger. Durch seine Arbeit im Trio ACTS! (mit Ana Čop (Voice) und Jaka Arh (Sounddesign)), im Duo mit Uli Rennert als HOME sowie mit seinem Thilo Seevers Ensemble baute sich der Musiker eine breite Palette an Ausdrucksformen auf, die er nun reduziert und komprimiert als geistiges Eigentum nutzen kann.

Piano-Solo-Aufnahmen gibt es wie Sand am Meer. Was "Auszug" heraushebt und auszeichnet, sind eine sprudelnde Leidenschaft, eine Genre-unabhängige Kreativität und die Virtuosität des Interpreten bei seinen interessanten Vorlagen und stimmungsvollen Eigenkompositionen. Instrument und Musiker verschmelzen zu einer Einheit, was jegliche Einteilungen in E(rnste)- und U(nterhaltungs)-Musik ad absurdum führt.

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