Marxist Love Disco Ensemble - MLDE

Für das Marxist Love Disco Ensemble gehören Marx & Dancefloor genauso zusammen wie Philosophie und Groove. 

Tanzbare Musik und politische Aussagen - kann das zusammenpassen? Es kann und diese Kombination ist nicht neu. In den 1980er Jahren erregten zum Beispiel Heaven 17 im Jahr 1981 mit ihrer Single "(We Don`t Need This) Fascist Groove Thang" Aufsehen, weil sich der Text kritisch mit der Haltung von Margaret Thatcher und Ronald Reagan im Hinblick auf Rassismus und Faschismus auseinandersetzt. Aufgrund dieser provokanten Aussagen wurde der Titel von der BBC verboten. "Free Nelson Mandela" von The Special AKA sorgte 1984 dafür, dass das Schicksal von Nelson Mandela einer größeren Öffentlichkeit bekannt wurde und unterstützte somit in gewisser Weise seine Freilassung. Derlei Beispiele von Protest-Songs, die Menschen zum Denken und Handeln bewegen, gibt es viele. Stellvertretend dafür seien hier die 1969er Anti-Vietnam-Kriegs-Hymne "War" von Edwin Starr, "Ohio" von Crosby, Stills, Nash & Young, das die 1970 blutig niedergeschlagenen Studentenunruhen mit vier Toten anprangert, "Inner City Blues (Make Me Wanna Holler)" von Marvin Gaye, wo es um Armut geht, sowie "American Idiot" von Green Day, bei dem die üble Rolle der Massenmedien während des Irak-Kriegs im Jahr 2004 angesprochen wird, genannt.

Der Gründer des Marxist Love Disco Ensemble, der Percussion-Spieler und Komponist Paolo Volkov aus Bologna, hat noch einen etwas anderen Ansatz, denn er schrieb "MLDE" als Antwort auf "I Love America" von Patrick Juvet. "Der Song warf die Frage auf: Warum wird Disco, ein Genre, das ursprünglich von unterdrückten Minderheiten geschaffen wurde, schließlich zum Synonym für westlichen kapitalistischen Exzess?", erklärt Paolo Volkov die Motivation hinter seiner Idee, die dekadente Verbindung auflösen und dafür humanistische Ansätze einbringen zu wollen. Entsprechend undogmatisch und verspielt geht er mit dem Erbe der Disco-Kultur um.

"Dust" wird in einen Klangteppich gehüllt, der psychedelischen Space-Age-Pop, schmissige Easy-Listening-Töne und gut gelaunte, bunte Carnaby-Street-Sixties-Vibes zu einem Gefühl der unbeschwerten Lebensfreude und Dauer-Party-Stimmung erheben.
Musikalisch ist "Brumaire" ein Konglomerat aus reifem, bedächtigen Lead-Gesang und rhythmisch aktivem Pop, wie er in den 1980er Jahren zum Beispiel von ABC aufgelegt wurde und heute noch von Belle & Sebastian praktiziert wird. Das Lied nimmt direkten Bezug auf Aussagen von Karl Marx, der die rückwärts orientierte Politik von Napoleon untersuchte.
"MLDE" soll von osteuropäischen und mediterranen Disco-Platten der 1970er Jahre beeinflusst worden sein, wovon das kitschige, von Billig-Synthesizer-Schwingungen durchzogene und mit Minimal-Art-Mustern versehene "Material" zeugt. Dass der Titel nicht in seichten Wohlklang abdriftet, dafür sorgen die versierten Jazz-Musiker des Ensembles, die den gediegenen Sound stets niveauvoll verfeinern und für eine kunstvolle Gestaltung sorgen. Was sich zunächst einfach anhören mag, wurde jedoch im Grunde genommen komplex zusammengesetzt.
"Manifesto" blubbert, klopft, schwirrt und surrt, dass es eine belebende rhythmische Freude ist. Eine erotische weibliche Gaststimme verbreitet Sinnlichkeit, während im Kontrast dazu eine nüchterne Beamtenstimme stumpf die Parole "Disco Socialista" verkündet.
Der Text von "1905" bezieht sich auf die Russische Revolution, dennoch ist die Musik nicht aggressiv oder wütend, sondern strahlt Güte, Freundlichkeit und Zuversicht aus. Paolo Volkov zeigt sich unberechenbar, was die konträre Stimmungslage zwischen dem problematischen textlichen Inhalt und der zuversichtlichen Musik angeht. Das macht den besonderen Reiz des Albums aus.
"Die Menschheit wurde für die Gier verpfändet, eingekerkert von kriegerischen Mehrwertdieben. Vertreibe die Götter vom Himmel und du wirst feststellen, dass uns dann die Freiheit winkt", heißt es schon beinahe aufrührerisch in "Hues Of Red". Dazu erscheinen galante Disco-Funk-Töne, die so gar nicht den Anschein erwecken, als würden sie eine Revolution anstreben. Mimikri nennt man das in der Biologie: Die Kunst der Täuschung, die zum Schutz oder zum Anlocken genutzt wird.
"Hide And Seek" ist voll von agitatorischen Parolen wie "Chauvinisten und Hoffnungslose ernähren sich von der Unzufriedenheit". Beinahe albern wirkt dagegen der begleitende knallbunte Pop, der auf die lustige Wirkung von quietschenden Billig-Synthesizern, gepflegten New Romantics-Chic und süße Harmonien setzt. Diese verspielte Naivität kommt auch dem Soundverständnis von Carsten "Erobique" Meyer ("Tatortreiniger") nahe, wo aufreizende Fröhlichkeit auf virtuose Musikalität trifft.
Die physischen Tonträger von "MLDE" enden mit dem eifrigen, unausgeglichenen "Engineers", bei dem sich der weibliche Gesang manchmal absichtlich etwas neben der Spur anhört. Der sexuell aufgeladene Disco-Boogie wirkt angestrengt, während der Duett-Gesang schleppend hinterher hinkt. Gegensätze ziehen sich auch hier an.
Der nur digital verfügbare, kurze Bonus-Track "Communique" ist ein fragmentarisches Experimentalstück mit Space-Sound-Elementen, stilisierter Volksmusik und jammernden Synthesizer-Tönen. 
Der zweite Zusatz-Titel "Recapitulate" macht seinem Namen Ehre, da er einige Motive des Albums aufgreift, neu strukturiert und zu einem Medley aus grade erlebten Eindrücken zusammenfügt.

Wer sich noch an die "Mutant Disco"-Zusammenstellung des New Yorker ZE-Labels aus dem Jahr 1981 erinnert, die Künstler wie Kid Creole & The Coconuts (die mit "Stool Pigeon" 1982 ihren größten Hit hatten), Was (Not Was) (die Band vom Produzenten Don Was), Cristina (Monet) oder Material (der Hammer: "Bustin` Out" mit der stimmgewaltigen Nona Hendryx von Labelle) hervorbrachte, der wird sympathische Parallelen zu dem Marxist Love Disco Ensemble feststellen. Fans von Stereolab, dem Mild High Club oder den High Llamas werden sich hier sowieso wohlfühlen.

"MLDE" besitzt bei aller Eingängigkeit und vermeintlicher Anpassung an gängige Sounds genügend Substanz, um schwindelerregende Assoziationen loszutreten. Gute Musik besteht eben immer auch sowohl aus körperlich wie auch aus geistig anregenden Tönen. Und zu diesem Prozess trägt das Marxist Love Disco Ensemble einige Impulse bei.

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