Natalia Kiës – Phoenix

Das Konzept von "Phoenix" favorisiert die verheißungsvolle Vereinigung von Gegensätzen.
Das offensive und lyrische Piano von Tori Amos, der Folk-
Jazz-
Einfluss von Joni Mitchell (einschließlich einer Reinkarnation des voluminös-melodischen Jaco Pastorius-Bass-Spiels durch Moto Fukushima), das experimentelle Element von Annette Peacock und die Stimmfarbe von Julia Holter sind ein paar Assoziationen, die die Kompositionen von Natalia Kiës hervorrufen. Die vielseitige Musik bietet auf jeden Fall ein Gegengewicht zum allgemeinen Mainstream-Terror mit dessen oft überflüssiger akustischer Umweltverschmutzung an.
Natalia wuchs in Nikolai (Polen) auf und siedelte mit ihrer Familie nach Köln (Nordrhein-Westfalen) über, als sie acht Jahre alt war. Schon mit fünf Jahren entdeckte sie das Klavier für sich und übte fleißig ohne Druck, alleine aus dem Interesse an der Musik heraus. Nachdem das Talent die Integrationsphase an die neue Heimat hinter sich gebracht hatte, studierte die angehende Künstlerin klassisches Klavier an der Folkwang Universität der Künste in Essen und danach Jazz/Pop-Gesang an der ArtEZ Universität der Künste in Arnhem (Niederlande). Erstaunlicherweise absolvierte sie auch noch ein Studium der Psychologie zum Einfluss von Musik und Stress auf die kognitiven Leistungen an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. 

Dieses Wissen kommt Natalia Kiës nun bei der Abstimmung ihrer emotional kontrastreichen Kompositionen zugute und erklärt den souverän-unverkrampften Umgang mit lyrischen Passagen und Improvisationen. Ein intelligenter Anpassungs-Prozess sorgt dafür, dass die scheinbar widersprüchlich-gewagten Dynamik-Sprünge doch zu stimmigen Ergebnissen führt. Die Methode der konstruktiven Ablenkung zieht sich komplett durch das gesamte Album: Das Piano behauptet bei "Crystalline" trotzig und forsch seine Vormachtstellung. Da können auch die polyrhythmischen Percussion-Einlagen nichts dran ändern. Als wolle Natalia eventuelle Verfolger abhängen, ändert sie das Tempo und die Instrumentierung, schlägt Haken und verändert den Ausdruck des Gesanges. Erstaunlich, dass bei dieser akustischen Achterbahnfahrt der Flow nicht abreißt!
Natalia Kiës zeigt sich immer noch ihren Wurzeln verbunden und singt deshalb auch ein paar Lieder in polnischer Sprache: Hallende und splitternde Töne, unheimliche Fiebertraum-Klänge und eine wehmütige Stimme spielen die Hauptrollen bei "Moja własna cisza" (= Mein eigenes Schweigen), das sowohl die Inhalte einer Klang-Installation wie auch die eines dramatischen Art-Pop abbildet.
"I Am Gone" funkt mit Hilfe von schnell getakteten Minimal-Art-Loops ins Jenseits. Diese Signale werden von den Klängen einer psychedelischen Piano-Ballade flankiert, bis dieses anregende Konstrukt plötzlich in einen experimentellen Drogen-Rausch-Taumel verfällt. Ein jäher Bruch, von dem sich der Song nicht mehr erholt.
Die Percussion-Untermalung erinnert an das Rattern bei einer Zugfahrt und an das Wimmern eines jungen Seehunds, der Bass gibt unauffällig Rückendeckung, das Piano verbreitet meditative Akkorde und der Gesang ist rein und unschuldig. Auf diese Weise wird aus "Fall Asleep" ein berührendes, wenn auch ungewöhnliches Avantgarde-Chanson.
Pure lyrische Leichtigkeit alleine reicht Natalia nicht aus, um einen Song zu gestalten. Deshalb beherbergt "Piksel I Pigment" noch zusätzlich eine mystisch-folkloristische Prägung und eine jazzig-gedankenverlorene Seite. Tönern wirkende Töne, die mit einem Echo versehen sind und ein Chorgesang mit ursprünglich-traditionellen afrikanischen Schwingungen, die nach Anerkennung suchen, füllen das Klangbild. Da ist dann aber auch noch das sprudelnd wirbelnde Klavier, das eindeutig vom improvisierten Jazz geleitet wird und sich gegen alle Widerstände durchsetzen möchte. Mit diesen Eigenarten wurde auch dieser Song unkonventionell, mit Sinn für attraktive Reibungen, arrangiert.
"Traces" setzt das Sound-Abenteuer fort, denn märchenhafte Glückseligkeit steht neben progressiven Sound-Experimenten. Es bleibt also auf hohem Niveau positiv aufregend.
Verhaltene, an brasilianische Rhythmen angelehnte Takte, Minimal-Art-Hypnose, Elektronik-Fiepsen und betörender Gesang bilden zusammen das traumwandlerische Gerüst für "Edda".
"Świetlik" (= Dachluke) geht einen ähnlichen Weg wie "Edda", nur hier wird zwischendurch ein schnellerer Percussion-Teppich als Impulsgeber zugrunde gelegt.
Natalia singt mit sich selbst im Duett und verleiht "Kropelka" (= Tröpfchen) mit diesem Stilmittel ein seriös-geistliches Antlitz. Durch einen lebhaften Jazz-Groove wird die bedächtige Stimmung dann zeitweise aber wieder aufgelöst.
Spritzig-bewegliche Percussion-Instrumente bringen "Snowtrain" in Schwung. Das Piano vermittelt dabei zwischen dem umsichtig-ausgleichenden Gesang und der aktiv-lebhaften Eskorte.
Ein dynamischer, vom E-Piano angetriebener Jazz-Rock versorgt "Mówić przez sen" (= Im Schlaf reden) zunächst mit Energie und Grazie. Dann wandelt sich prompt die Stimmung: Gesangliche Flexibilität und lyrische Lautmalerei bestimmen auf einmal die Richtung dieser aufsehenerregenden Ballade.

Natalia Kiës hat bereits mit diesem ersten Album eine reife Leistung vorgelegt. In kleiner Besetzung wird ein umtriebiger, breiter Sound erzeugt, der trotz intellektueller Finessen nie kopflastig kompliziert, sondern stets unbefangen behutsam und erfrischend anders handelt. Deshalb lassen sich die Kompositionen auch in kein Stil-Korsett zwängen. Zu eigenwillig, ungewöhnlich und verzwickt sind sie - und auch liebenswert niveauvoll.

Nebenbei hören ist keine gute Idee bei "Phoenix", denn dann erschließt sich die komplexe, wohlüberlegte, komplex abgestimmte, formvollendete Collagen-Technik nicht. Die Musikerin und ihre Kollegen Keita Ogawa (Percussion) und Moto Fukushima (Bass) arbeiten unter anderem mit scheinbar aus der Umwelt zu stammenden, aber exklusiv erzeugten Effekten, die sich zurückhaltend ins Klangbild einfügen. So kommen Assoziationen wie Wildenten-Geschnatter, Hunde-Hecheln oder Atem-Geräusche auf, die den Höreindruck zusätzlich unaufdringlich-interessant gestalten.

"Phoenix" steht in diesem Zusammenhang für die Auferstehung einer progressiven Musikentwicklung, die weder Grenzen noch Konventionen anerkennt, sondern im Geiste einer freien Kreativität nach künstlerischer Erfüllung sucht. Und das ist beeindruckend reif gelungen! Natalia Kiës fordert durch bewusst gesetzte, aufrüttelnde Kontraste und eine innere Vehemenz die Aufmerksamkeit der Hörerschaft heraus. Neugier macht sich bezahlt!

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