Carminho - Portuguesa

Vermächtnis und Fortschritt: Carminho überführt den traditionellen Fado in eine neue Darstellungs-Epoche. 

Die traditionelle Folklore Portugals, der Fado, liegt Carminho im Blut. Kein Wunder, denn auch ihre Mutter Teresa Siqueira ist eine Fado-Künstlerin, die dieses klangliche Gewirr aus Melancholie und Leidenschaft zum Strahlen bringen kann. Und so geschah es, dass Carminho, die als Maria do Carmo de Carvalho Rebelo de Andrade am 20. August 1984 in Lissabon geboren wurde, schon mit 12 Jahren ihren ersten öffentlichen Auftritt hatte. 2009 erschien dann das erste Album ("Fado"), gefolgt von "Alma" (2012), "Canto" (2014), "Carminho Canta Tom Jobim" (2016) und "Maria" (2018).


Mit "Portoguesa" ist die portugiesische Identität gemeint, die seit der wirtschaftlichen Rezession im Jahr 2008 wieder an Bedeutung gewonnen hat. Und damit auch der klassische Fado, der von der jüngeren Generation als Sprachrohr ihrer Bedürfnisse wiederentdeckt wurde.

Carminho verwendet für "Portuguesa" eine Kombination aus Fremd- und Eigenkompositionen, die in akustische, elektrische und elektronische Töne gekleidet werden. Auf dieser Veröffentlichung wird die Fadista von André Dias an der portugiesischen Gitarre, der Fado-Gitarre von Flávio César Cardoso, von Tiago Maia am akustischen Stand-Bass, der E-Gitarre von Pedro Geraldes und dem Mellotron von João Pimenta Gomes begleitet. Wobei die landestypischen Gitarren, die nach Mandoline oder Zither klingen, ein starkes Gewicht erhalten. 

Der Eröffnungs-Track "O Quarto (Fado Pagem)" ist ein portugiesischer Blues - zumindest was die Gefühlslage angeht. Leidend-dramatischer, emotional packender Gesang und eine volkstümliche Begleitung mit einem atmosphärisch dichten Flair, welches an manche von Ry Cooders Soundtrack-
Kompositionen (z.B. für "Paris, Texas") erinnert.
Bei ähnlicher Gefühlslage wird das folkloristische Klangspektrum von "As Flores (Fado Flores)" noch zum Schluss durch eine schroffe E-Gitarre und sphärische Synthesizer-Töne erweitert.
Für "As Fontes (Fado Sophia)" bleibt der Gesang ernsthaft-bedrückt, während der munter hüpfende Rhythmus Anlass zur Hoffnung gibt.
"Praias Desertas" verbreitet eine liebliche, aber gleichzeitig geheimnisvolle Atmosphäre und nutzt dabei die konstruktive Reibung zwischen beherzt-kräftigen akustischen und sinnlich-schwebenden elektronischen Klängen.
"Marcha De Alcântara De 1969" bezieht sich auf die Tradition der Volksmärsche in Lissabon, die bis ins Jahr 1932 zurück reichen. Die begleitende Musik soll schwungvoll die Massen in Solidaritäts-Taumel versetzen und zur Demonstration anregen. Eine Aufbruchs-Stimmung, die auch dieses Lied vermittelt. Die Gitarren laden sogar zum Tanzen ein und Carminho legt Entschlossenheit und Schwung in ihren selbstbewussten Gesang.
Flehend, aber auch beschwörend und umwerbend bieten die Schwingungen des lebhaften "Fado É Amor" eine ganze Palette an Verführungskünsten auf, die allesamt nachdrücklich und intensiv vermittelt werden.
Die Ballade "Palma" verzeichnet eine Ähnlichkeit zwischen portugiesischer und griechischer Folklore, die durch dunkle Kontrabass-Töne in eine universelle, wehmütige Musik-Sprache transferiert wird. 
"Simplesmente Ser" ist ein kurzes A cappella-Stimmen-Experiment, das im Original von der portugiesischen Sängerin Rita Vian stammt. Das Stück belegt, dass die Stimme von Carminho den Raum füllen und die Herzen öffnen kann.
"É Preciso Saber Porque Se É Triste (Fado Soneto)" bringt Kummer und Ermunterung akustisch unter eine Decke. Eine Fähigkeit, die ansonsten auch die Bossa Nova aufbringen kann. Und tatsächlich scheint die Musik mit brasilianischen Klängen verwandt zu sein, weil sie auch gleichzeitig lebensfroh und diszipliniert ist.
Die Saiteninstrumente und Keyboard-Töne erzeugen für "Sentas-Te A Meu Lado" - einer Komposition der portugiesischen Sängerin und Komponistin Luísa Sobral - ein fein verästeltes Gespinst filigraner Noten, die sich gegenseitig Respekt zollen und das Ohr mit aufrichtiger, warmherziger Harmonie füllen. Carminho gebärdet sich indessen als Drama-Queen mit mächtigem Stimmumfang, was einen heftigen Kontrast zur sensibel agierenden Instrumentierung bildet.
"Ficar" ist eine sentimentale Country-Folk-Ballade, deren unauffällig aufspielende E-Gitarre stützend wirkt und wo rauschende Space-Sound-Synthesizer-Klänge eine mystische Verwirbelung möglich machen.
Es liegt die Leichtigkeit italienischer Schlager in der Luft, wenn "Pedra Solta" ertönt. Wäre da nicht die strenge Stimme von Carminho, die den Song von jeglichem Kitsch-Klischee-Verdacht befreit und zu einem ernst zu nehmenden Folk-Chanson umwandelt.
"Levo O Meu Barco No Mar" bedeutet "Ich fahre mit meinem Boot aufs Meer". Das ist ein Abenteuer, das aufbauend oder bedrohlich ausgehen kann. Beide Aspekte finden sich stimmungsvoll in dem Song wieder: Zunächst deuten grummelnde Saiten-Klänge Unheil an, dann wird die kritische Situation aber durch befreiend-luftige Töne aufgelöst. Carminho spielt gerne mit kontrastreichen Gefühlslagen, wobei sie stets gesanglich die Hüterin der Ausgeglichenheit bleibt.
Als Abschluss gibt es mit "Meu Amor Marinheiro" eine weitere dunkle, temperamentvoll vorgetragene Ballade, die Carminhos Talent für das zur Schau stellen von überschäumenden Gefühlen nochmal eindrucksvoll demonstriert. Ihre Stimme erhebt sich zeitweise furchtlos über die E-Gitarre, lässt ihr aber genügend Platz, um sich kreativ entfalten zu können. Gemeinsam erfinden sie einen Spannungsbogen, der die Luft zum Knistern bringt: Die E-Gitarre lotet die Finsternis aus und Carminho lässt ihren aufgestauten Emotionen dazu freien Lauf. Ambient-Sound trifft auf Stimmband-Overkill.

Carminho ist eine wichtige Erneuerin des Fado. Ihre durchdringend-intensive Stimme trägt eine Menge dazu bei, dass man sich der Musik nicht entziehen kann. Sie schlägt die Hörerschaft in den Bann, hält die Menschen emotional fest, holt die Willigen auf einer Schwingungs-Ebene ab, auf der es kein Entrinnen gibt. Auch wenn man kein Wort portugiesisch spricht, treffen die impulsiv vorgetragenen Gesänge direkt ins limbische System, wo Emotionen verarbeitet werden, so klar und überzeugend sind sie.

Für von Pop verwöhnte Ohren klingt traditionelle Folklore meistens gewöhnungsbedürftig, auch wenn sie aus dem benachbarten Europa stammt. Carminho nähert sich mit ihren Arrangements den Hörgewohnheiten von Art-Pop-Fans an, ohne die Ursprünge des Fado zu verleugnen. Das macht sie interessant für Musik-Interessierte mit offenen Ohren, die spezielle, nicht abgedroschene Sounds suchen. 

"Portuguesa" hat eine lange Entstehungsgeschichte hinter sich. Schon 2019 beschäftigte sich Carminho mit der Songauswahl und der inhaltlichen Ausgestaltung. Dieser lange Weg hat dazu geführt, dass sich die Portugiesin beinahe spirituell mit dem Einklang zwischen ihrer Persönlichkeit und ihrer Kunst befassen konnte. Daraus resultiert die besessene Sinnlichkeit, in die Carminho die Songs taucht und sie so durch ihre wuchtige Präsenz zu prächtigen Hymnen werden lässt.

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