Dino Brandão - Self Inclusion

Jetzt erst recht: Dino Brandão trotzt den Widrigkeiten des Lebens.


Die Diagnose einer schweren Krankheit kann zu tiefen Depressionen oder zur Freisetzung von bisher nicht ausgeschöpften Fähigkeiten führen. Oder es kann beides passieren. Wie beim Schweizer Musiker Dino Brandão. Das Leben des Künstlers ist von einigen Wechselfällen geprägt. Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken und Erfolge als Kreativer stehen sich dabei kontrastreich entgegen. Aktuell wurde bei ihm Multiple Sklerose festgestellt. Dino Brandãos Leben ist dadurch sinnbildlich in einen Taumel zwischen Zweifel und Euphorie geraten. Kontraste, die dazu führten, dass "Self Inclusion" einen langen Entstehungsprozess benötigte und das Werk zu einem extravaganten, spannenden Erlebnis werden konnte. Durch die Lebensumstände erklärt sich, warum die Platte so viele unterschiedliche Facetten authentisch aufzeigen kann - sie sind eben alle intensiv durchlebt oder durchdacht worden.

Zudem setzt "Self Inclusion" eine Reihe von Assoziationen frei, weil die Platte individuelle Eindrücke mit Mustern von musikalischen Vorbildern ineinander verdreht. Dazu gehören auch etliche Weltmusik-Strömungen und eine harmonisch eingebettete introvertierte Melodienvielfalt. Außerdem passen der erste Track "Sweet Madness" und der Abschluss "Loser" inhaltlich zusammen, weil beide Lieder aus der Erfahrung der Unterbringung in der Psychiatrie gespeist wurden. ""Loser" ist dabei nicht weniger als eine Hymne auf die vermeintlich dem Wahnsinn verfallenen Personen, die in Wahrheit vielleicht nur eine Auszeit brauchen von dem Wahnsinn, der uns alle umgibt", erklärt der Musiker seine Titel-Wahl und gleichzeitig verbindet er die Abschottung von der Gesellschaft in einer Klinik als Möglichkeit, die Gesundung zu unterstützen - wenn diese Phase professionell begleitet wird.

"Self Inclusion" sollte allerdings nicht auf die persönlichen Belange von Dino Brandão reduziert werden, auch wenn die Isolierung von der "Normalität" natürlich prägend war. Deshalb bildet der Opener "Sweet Madness" die öffnende Klammer um das Album. Der Song verkündet als Einstimmung auf Dinos Erkenntnis-Gewinne eine poetisch-philosophische Aussage über den Umgang mit unbequemen Tatsachen: "Der Wahnsinn beginnt, wenn die Wahrheit verdunkelt wird". 
Während der Titel noch durchgehend in einem rauschhaft-schläfrigen Art-Pop-Zustand verharrt, schüttelt der abschließende Track "Loser" die Melancholie nach einer Weile ab und widmet sich aktiven rhythmischen Gestaltungen, die "Self Inclusion" immer wieder stilistisch breit gefächert begleiten und bereichern. Inhaltlich wird die Sicht von außen auf psychiatrische Einrichtungen erklärt: "In der Psychiatrie sind wir alle gleich, zugedröhnt, aber unschuldig. Alle meine neuen Freunde hier haben den Test nicht bestanden. Die Gesellschaft hat beschlossen, dass wir uns ausruhen sollen". Bei dieser Beschreibung läuft der bedrückende, tragisch-komische Film "Einer flog über das Kuckucksnest" mit Jack Nicholson in der Hauptrolle vor dem geistigen Auge ab.

Dino Brandão - "Loser" (Café de la Danse, Paris 2021) (in dieser Version nicht auf "Self Inclusion" enthalten)

"Bouncy Castle" lädt über einen lässigen Bossa Nova-Takt zum eleganten Entspannen ein. Der Rhythmus kommt aus der Maschine und Brandãos Stimme erklimmt zur Spannungssteigerung auch schon mal hohe Tonlagen, betätigt sich ansonsten allerdings oft als gewandter Entertainer. "Das Leben ist eine Hüpfburg. Gefüllt mit Tränen und Lachen", ist die Kernaussage des Stücks.
Medikamentenversuche in Luanda im Jahr 1965 an 50 Kindern, die Kopfläuse hatten, führt zum Tod: "Coma" lässt die Vergangenheit nicht ruhen und zapft zur Untermalung dieser abscheulichen Story den mexikanischen Mariachi-Sound an, der durch Calexico in den Mainstream gelangt ist. Aktive Percussion-Klänge bringen den Track auf Trab, Trompetenfanfaren drosseln die Euphorie wieder und Dino lässt sich gesanglich mal von der aufgewühlten und mal von der bedächtigen Stimmung anstecken.

Das dunkle, sich anscheinend mühselig dahinschleppende Chanson "Coconut" spielt für seinen rätselhaften Ausdruck mit den undurchsichtigen Stimmungslagen in einer schwülen Nachtklub-Szenerie, bei der sich die Gestrandeten, die Zwielichtigen und die Unglücklichen zufällig versammeln und die Anonymität suchen. Der moderierende Gesang ist bisweilen beißend-schmerzend bis unangenehm-quälend, was dem Song eine einschneidende Intensität verleiht. Als würden sich die Noten ihren Weg durch eine zähe Masse hindurch bahnen müssen, wirkt der Ablauf auf anziehende Weise klebrig und langsam. Dabei geht es im Text eigentlich um die vergeblichen Liebesbemühungen beim Werben um eine Frau - was sich natürlich auch traumatisch auswirken kann.

"Progress" punktet mit südländischem Temperament und überkandidelten, schrillen Gesangseinlagen. Die Spielfreude streift dabei die Grenze zur hemmungslosen Euphorie. Wie ferngesteuert oder hypnotisiert spulen Background-Stimmen ihre Formeln ab, aber der skizzierte kalkulierte Wahnsinn hat Methode: "Viele europäische Länder sind reich geworden, weil sie lange Zeit andere ausgebeutet und kolonialisiert haben. Und wenn die Menschen, die Generationen später noch immer unter den Auswirkungen davon leiden, nun zu uns kommen wollen, wirft man ihnen vor, uns ausnehmen und bestehlen zu wollen", diagnostiziert der Schweizer Musiker mit afrikanischen Wurzeln.

Durch einen gefälschten Südsee-Feeling-Sound schwimmt "Everyday Happy Birthday" auf einer Wohlfühl-Welle ins Haus. Ob man allerdings solch ein aufgekratztes Geburtstagsständchen jeden Tag haben möchte, sei infrage gestellt. Denn der Song nimmt sich selbst nicht so ganz ernst und kann hinsichtlich der zur Schau gestellten, übertriebenen Fröhlichkeit sogar als Persiflage angesehen oder verstanden werden. Das Lied beschreibt gemischte Gefühle, die uns beschleichen können, wenn wir bewusst oder unbewusst inkonsequent handeln. Ein täglicher Geburtstagsgruß soll dann aber bewusst machen, dass wir uns trotzdem feiern lassen können, weil wir das Meiste doch immer richtig gemacht haben.

Es gibt etliche illegale Diamanten-Minen im Dschungel von Südamerika. Die Arbeitsbedingungen sind erbärmlich, die Natur wird durch die Förderung zerstört, Krieg, Krankheit, Korruption, Kriminalität und Armut quälen die Menschen zusätzlich und nur wenige Personen werden durch die geförderten Edelsteine 
tatsächlich reich. Dieser problematische Themenkomplex liegt "Learning Portuguese" zugrunde, der durch spritzig-unbedarfte Latin-Rhythmen getarnt wird und so vorübergehend seine niederschmetternde Aussagekraft verlieren kann.

Ein holpriger Afro-Beat-Takt bringt "Pretty" zunächst teilweise zum Schlingern, daneben gibt es aber noch Passagen, die von gemütlich-maritimem Schaukeln und quengelndem Gezerre durchzogen sind. Balladeske Momente und meditative Töne tragen ergänzend zu einem munteren Musik-Puzzle-Effekt bei. Thematisch geht es ernst zu: Einem 12-jährigen Mädchen wird klar, wie heftig die Globalisierung dem kleinen, bäuerlichen Erwerb der Familie zusetzt.

"Hybrid" ist lebhaft, mystisch, melodisch, neugierig-verspielt, ausgeglichen und nervös. Heraus kommt dabei ein abwechslungsreicher Art-Pop mit künstlerischem Hintergrund, wie ihn Robert Wyatt gerne praktiziert. Dino Brandão gelingt es, mit dem Song eine unverkrampfte, originelle Arrangier- und Komponierkunst auf höchstem Niveau zu zelebrieren! Der Song macht darauf aufmerksam, dass Migration eine natürliche Entwicklung ist und die Grundlage für viele Fortschritte darstellt.

Als wichtigste Erkenntnis bleibt bei der Beschäftigung mit "Self Inclusion", dass die Musik auch ohne die intimen Kenntnisse über die Lebensgeschichte von Dino Brandão interessant und rätselhaft ist. Neben traurigen, unscharf verletzlichen Schwingungen transportiert sie nämlich jede Menge von lustvoll-heiteren, klar und hell glitzernd-funkelnden Eindrücken, die sich nach bunter Knete im Kopf eines positiv "Verrückten" anhören.

In den Songs pulsiert das Leben in all seinen Schattierungen. Ausgelassenheit und Lebensfreude nehmen dabei aufgrund von (poly)rhythmischen Auflockerungen einen großen Platz innerhalb der Kompositionen ein. Ob es sich dabei um eine tief empfundene Fröhlichkeit oder um Zweckoptimismus handelt, spielt keine Rolle, weil dem Art-Pop auf die eine oder andere Weise eine lässige Unbekümmertheit zugewiesen wird. Traurigkeit taucht nur am Rande des Werkes auf, sodass eine Ausgewogenheit der Emotionen gewahrt bleibt. "Ich mag es irgendwie, den Leuten schwere Themen mit beschwingter Musik unterzujubeln", erklärt der Musiker sein Vorgehen.

Dino Brandão ist ein erfahrener Musiker. Bis 2019 war er Sänger und Gitarrist der Band Frank Powers. Danach folgte der Song "Ich liebe dich" mit Faber und Sophie Hunger sowie 2020 die EP "Bouncy Castle", die nun den Titel-Track und "Pretty" für das Album beisteuert. Der Schweizer hat seine Nische, seine persönliche Ausdrucksform gefunden und "Self Inclusion" fast alleine eingespielt. Er macht sich auf seinem Solo-Debütalbum die Tugend zunutze, dass die optimistische Schwester der Melancholie die Hoffnung ist. Mit dieser Erkenntnis und 
mit seiner künstlerischen Begabung überlistet er die Widrigkeiten des Lebens. Bravo, Dino!

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