Tigran Tatevosyan - Mer Tan Itev (2024)

Vermächtnis und Originalität: Tigran Tatevosyan beherrscht die Traditionen und sucht eigene Wege.


Tigran Tatevosyan ist ein Wunderkind an den Tasten. Der Armenier begann schon mit sechs Jahren eine acht Jahre dauernde Klavierausbildung, die ihm die klassische Musik näherbrachte. Sein Sinn stand ihm aber auch nach Improvisationen, weshalb er nach seinem Bachelor-Abschluss beschloss, sich dem Jazz zuzuwenden. 2017 schrieb er sich am Rachmaninow-Konservatorium in Rostow, Russland, ein, um einen Master-Abschluss in Jazz-Klavier anzustreben.

Zu den musikalischen Vorbildern wuchsen in dieser Zeit Oscar Peterson, Herbie Hancock, Chick Corea, Lyle Mays und Keith Jarrett heran, er blieb aber auch Debussy und Rachmaninoff verbunden. 2020 zog Tigran nach Hamburg, wo er am Dr. Langner-Jazz-Master-Programm teilnahm.

Der Mann mit den flinken Fingern lässt die Töne lebhaft sprudeln oder zieht sich mit tragischen Schwingungen in dunkle Räume zurück. Tatkräftige und sensible Unterstützung gibt es bei diesen Vorhaben ab und zu von seinen Kollegen
Ziv Ravitz (Schlagzeug) und Giorgi Kiknadze am Bass.

Mit "Celebration" feiert Tigran Tatevosyan spritzig-impulsiv das Leben, die Liebe und die Kunst, lässt aber auch nachdenkliche Zwischentöne zu. Das Schlagzeugsolo in der Mitte des Stückes sucht nach Orientierung und bremst sich dafür selbst bis zum Stillstand aus, bevor das Piano den Weg zurück zum Spaß einleitet und es ein ergötzliches "Happy-End" gibt.

Das ungestüm swingende "Brilliant Corners" von Thelonious Monk aus 1956 wurde von Tigran Tatevosyan in eine begeistert vorgetragene Cover-Version überführt, die sich extravagant zur Schau stellt, aber die Grenzen des gewohnten, improvisierenden Jazz-Rahmens dennoch nicht sprengt.

Der kurze Piano-Solo-Einspieler "Mer Tan Itev" ist an ein traditionelles armenisches Volkslied angelehnt und enthält romantische Figuren, deren Wesen im Ungewissen bleiben, da die Komposition aufhört, bevor die Geschichte zu Ende erzählt ist.

"Forgotten City" lässt sich auf keine eindeutige stilistische Zuordnung ein. Frédéric Chopin und Bill Evans hätten wahrscheinlich ihre Freude an dieser andachtsvoll-besinnlichen Komposition gehabt, bei der jeder Musiker so viel Mitgefühl wie möglich in die erzeugten Noten legt.

"The Sorcery: Manifestation" ist ein weiteres knappes Piano-Solo-Zwischenspiel, das
wie eine spontane Laune wirkt, jedoch aufgrund der Kürze von nicht einmal eineinhalb Minuten keine Akzente setzen kann. Dabei sind es genau solche unkonventionellen Ideen, die verkrusteten Piano-Trio-Jazz generell aus seinen eingefleischten Abläufen heraus holen können.

"Memories Of A Dream" ist solch eine typische, erwartbare Jazz-Komposition, die zwischen Melancholie und Euphorie angesiedelt ist und jedem beteiligten Musiker mehr oder weniger intensiv die Möglichkeit zur Entfaltung und Profilierung bietet. Perfekt dargeboten, bleibt das Stück aber in seiner Form und seinem Ablauf berechenbar.

"The Wind’s Dance" legt ein hohes Tempo vor, das an die quirligen Stücke von Chick Corea's "My Spanish Heart" aus 1976 anknüpft, auch wenn sich hier die südländische Leidenschaft nicht unbedingt als integrierter Folklore-Bestandteil nachweisen lässt.

Mit "The Sorcery: Ritual" folgt eine weitere komprimierte Klavier-Darbietung, die sich als dramatischer Einschub nahtlos in die handverlesene Kollektion einfügt. 

Die nächsten zwei Tracks haben eine Verbindung miteinander: "Part 1: A Child’s Mind" bildet einen atmosphärisch dichten Auftakt und 
"Part 2: Blessing" hüpft vor Vergnügen, bevor sich das Gebilde intellektuell windet und dreht.

Mit "The Sorcery: Reflection" begibt sich Tigran Tatevosyan noch einmal auf Solo-Pfade und deckt ein für ihn heimisches Gebiet ab, in dem er als einfühlsamer Balladen-Interpret mit Improvisationstalent auftritt und auftrumpft.

"Mer Tan Itev" 
ist Tigran Tatevosyans Debüt-Album. Der armenische Titel bedeutet "Hinter unserem Haus". Das Werk wurde bereits 2022 in Osnabrück aufgenommen und erscheint am 28. Juni 2024. Der Künstler ist angetreten, innerhalb der Jazz-Trio-Musik einen persönlichen Klang zu erschaffen, was ihm auch in Ansätzen gelungen ist. 

Immer dann, wenn sich der Pianist von bekannten Strukturen entfernt, wie unter anderem bei "Celebration" oder "The Sorcery: Manifestation", erreicht er einen Punkt, wo sich seine Virtuosität verselbständigt und das Gelernte mit dem Intuitiven ein ungezwungenes Fest feiert. Dann entsteht charakteristisch ausgeprägte Kunst. Darauf aufbauend könnte es für Tigran Tatevosyan in Zukunft spannende Herausforderungen geben, wenn er das Abenteuer in unbekannten Gefilden sucht. Eventuell wären Tim Buckley, Radiohead, Benjamin Clementine oder Henry Cow als Eckpfeiler für eine Richtungsbestimmung im Sinne einer Zukunftskonzeption geeignet, um revolutionäre Erweckungs-Erfahrungen zu unterstützen und zu realisieren. 

Tigran Tatevosyan ist ein meisterlicher Pianist, der erst am Anfang einer womöglich bewusstseinserweiternden Entwicklung steht. Mit den geeigneten Inspirationen kann er ein ganz großer Individualist werden!

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