Verborgene Plattenschätze: The Earlies - The Enemy Chorus (2007)

Pop als Kunstform ohne Schere im Kopf: The Earlies entwerfen und feiern Songs, die nach Harmonie und Experiment duften. 


Die Formation The Earlies arbeitet außergewöhnlich: Gegründet wurde sie 1996 von Brandon Carr und John-Marc Lapham aus Texas sowie Christian Madden und Giles Hadden aus Nord-England aus einer Bierlaune heraus. Die Musiker koordinierten ihre Tätigkeiten über das Internet. Ihre Fähigkeiten wurden dabei durch eine tolerante Grundhaltung zueinander und zu den jeweils vorgeschlagenen Entwürfen zum Wohle gemeinschaftlicher Veröffentlichungen, die alle Erwartungen unter einen Hut bringen sollten, miteinander verschmolzen.

Für die ersten EP-Aufnahmen, die später zur Debüt-LP "These Were The Earlies" von 2005 führten, sang Brandon Carr die Lieder zu Hause in Dallas ein und die Instrumentalisten werkelten in einem Studio in Manchester an einem kunstvollen, orchestral aufgeschichteten Sound. 

Um das zweite Album "The Enemy Chorus" fertigzustellen, reiste Carr 2007 nach England, was der Gruppendynamik noch mal Aufwind verschaffte. Es geht eben nichts über persönliche Kontakte. Die Künstler-Vereinigung bestand zu diesem Zeitpunkt aus 15 eingebundenen, als feste Bandmitglieder aufgeführte Musiker.
  
In der Ouvertüre "No Love In Your Heart" kommt vieles zusammen, was den Sound von "The Enemy Chorus" prägt und ausmacht: perlende Jazz-Grooves; stramme, am Rhythm ’n’ Blues geschulte Schlagzeug-Figuren; barocke Beatles-Harmonien; elektronisch erzeugte, sich ploppend reproduzierende Endlos-Rhythmus-Schleifen mit Bezug auf den tanzbaren Krautrock von Neu!; hymnische Bläser-Sätze; Hörnerven stimulierende Minimal-Art-Konstruktionen und seltsame Science-Fiction-Soundtrack-Geräusche. Obwohl sich die Zutaten verworren und üppig konstruiert anhören, ergibt alles Sinn und der Track bricht nie die Gesetze eines klassischen Pop-Songs. Das Stück entstand aus einem schlüssigen, klugen Konzept, das aus Vielfalt gespeist wird. Es erzeugt bei aller musikalischen Lebendigkeit textlich eine Spiegelung von Leere und Sinnlosigkeit: "Gibt es nichts, was die Löcher füllen wird, die du heute Nacht gegraben hast? Nehmen all die dröhnenden Stimmen in deinem Kopf kein Ende? Gibt es keine Liebe für all die anderen, die du zurückgelassen hast? Gibt es keine Liebe in deinem Herzen?" Ganz harter Stoff, bei dem es einem kalt den Rücken runterläuft.

Es sind erneut Beatles-Reminiszenzen, die "Burn The Liars" zum Schwingen bringen: stampfende, im Ping-Pong-Effekt hin und her fliegende Piano-Akkorde, eine antreibende Bass-Schlagzeug-Kombination, perfekter mehrstimmiger Gesang und das Hinzuziehen von halluzinogenen Sounds waren auch gerne benutzte Requisiten im Repertoire der Fab Four. "Erzähl mir nicht, dass das Leben okay ist", lautet eine Textzeile, die die optimistische Haltung der Töne Lügen straft.

Ausgehend von den lieblich-verzückten Psycho-Power-Pop-Errungenschaften, die sich die Beatles von 1965 bis 1967 haben einfallen lassen, wird der Song "Enemy Chorus" durch den dominanten Einsatz eines trockenen, harten Kontra-Bass-Loops - der sich an die Spieltechnik von Charles Mingus anlehnt - mit intellektuellen Jazz-Mustern bekannt gemacht. Dank eines peitschend, knalligem Schlagzeug ergibt sich ein positiv verwirrender Mix aus vernebelten und aufmunternden Klängen.

Für die Ballade "The Ground We Walk On" verbinden The Earlies gleich mehrere Komponenten, die für eine ergreifende Stimmung sorgen: traurige Blasinstrumente, eine jauchzende Pedal-Steel-Gitarre, engelsgleiche Background-Stimmen und cremiger, einschmeichelnder Lead-Gesang. In der Papierform sind das alles Elemente, die in der Regel auch zur Schnulzen-Herstellung verwendet werden können. Bei "The Ground We Walk On" hört sich das Ergebnis allerdings authentisch mitfühlend an, weil die aus der Poesie übertragene hoffnungslose Melancholie empathisch in die Noten überschwappt. Diese Transformation gelingt überzeugend, denn hier sind Könner am Werk, die mit Kitsch und Kunst umgehen und beide Formen konstruktiv einsetzen können.

"Bad Is As Bad Does" wird durch Mundharmonika-Töne eingeleitet, die sich anhören, als würden Wölfe den Vollmond anheulen. Inhaltliche Albtraum-Szenarien bedienen sich zur Untermalung ihrer bizarren, unscharfen Fantasien unterschiedlicher Taktfrequenzen: mal sind es sich träge dahinschleppende Break-Beat-Muster und dann wieder sich unruhig gebärdende Progressive-Rock-Rhythmen, die die sowohl mystische als auch unruhige Stimmung kontrastreich zur Geltung bringen. Eine billig wirkende Computerspiel-Animation, verzerrte Gitarren und sich überlagernde Synthesizer-Sound-Effekte tragen ergänzend zur Entstehung einer verheißungsvollen Sound-Collage bei. Brandon Carr lässt mit einer Stimmlage, die eine manipulative Strenge verbreitet, jegliche aufkommende Zuneigung zum Interpreten eiskalt abprallen.

"Gone For The Most Part" taucht in die Welt instrumentaler, exotischer, klangmalerischer, verschnörkelter Sound-Gestaltung ein. Hier finden weiche Mellotron- und Holzbläser-Töne genauso ein Zuhause, wie zu Noten-Bergen aufgetürmte Art-Pop-Gebilde. Robert Wyatt und Oregon lassen grüßen. Wunderbar, welch bizarre, verlockende Schönheit auf diese Weise entstanden ist!

Markige Bläser-Fanfaren, die mutig und herausfordernd aufspielen und dabei an das Brass-Jazz-Ensemble Blood, Sweat & Tears erinnern, erstürmen für "Foundation And Earth", wo es um einen angekündigten Selbstmord geht, den Gipfel der Leidenschaft. Zwischendurch führt der sinnliche, verführerische Gesang die Gruppe in die rauschhaften Gefilde des psychedelischen Pop. Pink Floyds Syd Barrett scheint bei diesen Passagen des Liedes als spiritueller Berater zur Seite gestanden haben. Fun-Fact: Es gibt einen Science-Fiction-Roman von Isaac Asimov mit dem Titel "Foundation And Earth". Am Ende des Songs hört man eine mechanische Schreibmaschine klappern und das Geräusch, wenn das bedruckte Papier herausgezogen wird. Sollte das eine Anspielung auf die Fertigstellung des Buches durch Asimov mit den altertümlichen Mitteln einer Schreibmaschine sein?

Wehmütig-sehnsüchtige, unsichere Gefühle werden bei "Little Trooper" ("Die Last des Lebens hat ihm alles genommen, was er hatte.") auf Basis eines melancholischen, Piano-gestützten, ausgereiften Chansons vermittelt. Der Track bringt bewährte Songwriter-Qualitäten, Space-Sound-Flirren und Einspielungen von NASA-O-Tönen als originell verknüpftes Klang-Puzzle zusammen.

"Broken Chain" findet zurück in die Roots-Pop-Schiene und vereint Folk-, Country- und Gospel-Elemente unter einem Schirm aus elektronischem Sternenlicht, das reizvoll strahlt und glüht. In sich gekehrt zelebrieren die Musiker ein schwebend-wolkiges, surreal-weltabgewandtes Ambient-Sound-Gebet.

Bei "When The Wind Blows" peitscht das Schlagzeug ungerührt, als würden es Schläge mit der Handfläche ins Gesicht imitieren. Dennoch wirkt das Stück nicht wirklich aggressiv, eher durchsetzungsstark. Es entsteht ein Rhythmus, der kompromisslose Antreiber-Qualitäten besitzt. Dadurch wird der grundsätzlich gemächliche Song aus seiner Behäbigkeit gelöst und gefällt sich schließlich als unberechenbarer, effektiv stimulierender, cleverer Power-Pop. Das ist raffiniert, einnehmend und erstaunlich!

Futuristisches Synthesizer-Fiepen, meditative Sitar-Klänge von indischen Ragas und das rhythmische Feuer der Folklore aus dem Maghreb befruchten sich beim abwechslungsreichen Instrumental-Titel "Breaking Point" gegenseitig. Es entsteht ein Wirbel an Tönen, der alle Stil-Einordnungen pulverisiert und das nackte, vorurteilsfreie Ergötzen an Klängen favorisiert und überhaupt erst ermöglicht.

The Earlies tun das Unerwartete und trumpfen bei ihren Kompositionen mit einem Füllhorn an Ideen auf. Die Musiker haben dabei eine Form der Selbst-Regulierung gefunden, der die Songs davor schützt, einzelne Bestandteile ausufern zu lassen. "The Enemy Chorus" ist eines der seltenen Alben, bei dem das Prädikat "anspruchsvolle, stimulierende Unterhaltung" in vollem Maße zutrifft. 

"The Enemy Chorus" verblüfft. Das Spektakel hält dabei mehr, als es verspricht. Tonkaskaden explodieren im Kopf. Erzeugen bunte Bilder. Bringen die Sinne zum Beben. In ihrer schillernden Vielfalt und dem Hang zu abenteuerlich-anmutigen Sounds erinnern The Earlies deshalb an Elbow oder The Beta Band oder Mercury Rev oder The Flaming Lips.

Die Earlies waren aber wohl doch ästhetisch und inhaltlich zu komplex, um kommerziell erfolgreich zu sein. Nach "The Enemy Chorus" gab es keine weiteren Veröffentlichungen dieser transkontinentalen Zusammenarbeit mehr. Wie so viele Talente zerbrach die Verbindung wahrscheinlich am ungenügenden Marketing, der Ignoranz der Medien und der Schnelllebigkeit der Branche. Was für ein Jammer...

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