Song des Tages: Cherry Ghost – Clear Skies Ever Closer (2014)

Wenn der Himmel so nah ist...


Der britische Songwriter, Sänger und Gitarrist Simon Aldred übernahm 2007 für sein erstes Album "Thirst For Romance" in Anlehnung der Verwendung des Ausdrucks „Cherry Ghost“ in Wilcos „Theologians“ (aus: „A Ghost Is Born“ von 2004) diese Bezeichnung als Künstlernamen.
 

Dessen Bedeutung wird vielfältig diskutiert und interpretiert. Die Verwendung in dem Song "Theologians" legt nahe, dass es sich um einen biblischen Bezug handelt. Es könnte sich um den „Heiligen Geist“ drehen oder mit einem zu erwartenden süßen Leben nach dem Tod zu tun haben. Der Wilco-Chef Jeff Tweedy deutete die Aussage selbst mehrfach. Einmal sprach er davon, dass es um eine wohltuende, die Seele wärmende, süße Erinnerung an einen Menschen, der gestorben ist, gehen würde. Es könnte aber auch ein Gefühl von etwas Schönem, das sich schnell verflüchtigt, gemeint sein. 

Egal wie man es dreht, „Cherry Ghost“ steht grundsätzlich für ein angenehmes, vielleicht spirituelles, auf jeden Fall aber dem Guten zugewandten Gefühl. Und tatsächlich ist der Name Programm und Leitstern für viele Songs aus der Feder von Simon Aldred geworden, dessen größter Erfolg bisher das Lied „People Help The People“ war. 

Allerdings kam nicht sein Original zu großen Ehren, sondern die Cover-Version eines damals 16-jährigen Mädchens namens Birdy. Das war 2011.

Am 12. Mai 2014 erschien „Herd Runners“, das famose dritte Album von Cherry Ghost.
Der Titel spielt mit dem Gedanken, dass alle Menschen grundsätzlich irgendwo dazugehören möchten, aber auch eine gewisse Individualität aufbauen. Manche passen sich im Laufe des Lebens ganz dem "Herdentrieb" an, andere gehen vollständig ihre eigenen Wege. Und dann gibt es noch jegliche Abstufung dazwischen. 
 
Für die Verwirklichung des Albums fuhr Simon Aldred ein Großaufgebot an Musikern auf: Jim Rhodes (elektrische Gitarre), Christian Madden (Keyboards), Colin Elliot (Bass, Percussion), Grenville Harrop (Schlagzeug), Esther Swift (Mundharmonika), Scott Poley (Pedal Steel Gitarre), Nicky Madden (Saxophon), Chris Snead (Trompete), Belinda Hammond und Sarah Percy (Geige), Alexandra Fletcher (Bratsche) und Elinor Gow (Cello).

Das Eröffnungs-Stück „Clear Skies Ever Closer“ nimmt einen sofort mit offenen Armen in Empfang und überwältigt jeden, der auch nur eine winzige Spur Sentimentalität oder Melancholie in sich spürt, welche gefüttert werden möchte. Es geht darum, wie uns ein Abschied in die Knie zwingen ("Oh, die Dunkelheit senkt sich wieder auf mich herab") und wie Zweckoptimismus uns aus dieser Krise befreien kann ("All unsere Abschiede werden wir überwinden"). Der Titel kann auch themenübergreifend etwa mit "Gute Zeiten rücken näher" übersetzt werden.
 
„Clear Skies Ever Closer“ verfügt über deutliche Strukturen und vermittelt einen wertbeständigen Gesamteindruck. Von Anfang an bestimmt das Streichquartett die emotionale Ausrichtung. Durch das Sirren und Schwirren werden überschwängliche, filmreife Gefühle, die Tragik und Hoffnung sowie Entschlossenheit und Niedergeschlagenheit symbolisieren, dick aufgetragen und großflächig ausgebreitet.
 
Der Gesang kann die geneigte Hörerschaft durch Schwingungen, die an die weise Zuversicht eines Ray Davies und die Überzeugungskraft eines Frank Sinatra erinnern, in den Bann ziehen. Die Stimme von Simon Aldred fungiert als Motor des Antriebs und dient als Kitt zum Flicken von gebrochenen Herzen.
 
Bass und Schlagzeug geben der Konstruktion Halt und stehen für Zuverlässigkeit. Die E-Gitarre steht für die Darstellung von aktiven Sternstunden des Lebens und die kurz eingesetzten Bläser sorgen für frischen Wind unter den Flügeln, der Auftrieb gibt, neue Perspektiven eröffnet und den Horizont erweitert. Das geschieht alles gleichzeitig und zeichnet ein ausgewogenes Klangbild ohne solistisch herausgestellte Akteure auf eine pulsierende Leinwand. Teamgeist ist bei den Instrumentalisten gefragt. Einer für alle, alle für Einen - der alte Leitspruch der Musketiere trifft voll auf die Zusammenarbeit und Dynamik zu. 
 
Somit ist Simon Aldred der D`Artagnan der Formation, nämlich der Lenker, Denker und das intellektuelle und empathische Zentrum und Gewissen des kreativen Prozesses. Er bestimmt, wo es lang geht, hält souverän die Zügel in der Hand, behält den Überblick und versteht es, die Töne so abzustimmen, dass der Song einen Evergreen-Charakter entwickelt. Aufwühlend, tröstend, traurig, eingängig und komplex sind keine Gegensätze mehr, sondern mehrere Seiten von ein und derselben Medaille. "Clear Skies Ever Close" beherrscht die Kunst der sinnlichen akustischen Verführung. Das Lied aktiviert das Ur-Verlangen nach Liebesbezeugungen, Trost, Hingabe und Zufriedenheit. Der Song ist demnach ein Ausdruck der Erfüllung nach Geborgenheit.
 
Der perfekte Pop-Song muss eben nicht marktschreierisch, sondern subtil zu Werke gehen, um sich dauerhaft in der DNA festzusetzen. Und ein wenig aufbauenden Wohlklang und Hoffnung auf bessere Zeiten kann schließlich jeder Mensch gebrauchen. Wenn es gelingt, den Hörenden diese Eindrücke zu vermitteln, dann ist die strahlende Schönheit von "Clear Skies Ever Close" dem himmlischen Leuchten in seiner überwältigenden Wirkung sehr nah.

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