Verborgene Plattenschätze: The Teardrop Explodes - Wilder (1981)

Mit "Wilder" stieg Julian Cope in die oberste Liga britischer Songwriter auf.

Das Cover der Erstveröffentlichung (1981), übernommen von der Maxi-Single "Passionate Friend".

Das Reissue-Cover (2000 + 2013), welches ursprünglich vorgesehen war.

"Wilder" wird vollends von Julian Cope, dem Sänger, Multiinstrumentalisten, Komponisten und Gründer von The Teardrop Explodes aus Liverpool dominiert. War sein Einfluss als Frontmann der Gruppe mit dem grandiosen Namen ohnehin schon mächtig, so hat er beim zweiten Album beinahe sämtliche Zügel fest in der Hand.

Alle Kompositionen inklusive der zum Großteil kryptischen Texte stammen aus Copes Feder und seine Vorliebe für den ausschweifend-enthusiastischen Pop von Scott Walker, den er im Herzen trägt, ist mehr als deutlich zu spüren. Die Lieder sind überdies tief in der Tradition der seriösen, leidenschaftlich-wehmütigen Pop- und der munteren, gut gelaunten Bubblegum-Perlen der Sechzigerjahre verwurzelt, denn in Julians Genen sind zumindest die Beatles stark verwurzelt. Darüber hinaus werden die Lieder im Zeichen des Post-Punk-Aufbruchs eigenwillig und emanzipiert dargeboten, sodass nie der Eindruck von Anachronismus entsteht. Sie hinterlassen vielfach den Anschein, reifer als die tollen, energisch vorpreschenden New-Wave-Songs des Teardrop Explodes-Debüt-Albums "Kilimanjaro" aus 1980 zu sein.

Und: Cope ist ein fabelhaft ausdrucksstarker Sänger, der darüber hinaus ein Talent für das Erschaffen von mitreißenden Melodien besitzt. Seine starke, glasklare Stimme trägt dazu bei, dass sich selbst gefühlvoll-melancholische Kompositionen, wie "The Great Dominions" oder ".....And The Fighting Takes Over" nicht zu sentimental und schwermütig anhören.

Zur Zeit der Entstehung von "Wilder" standen die Zeichen auf Zerwürfnis. Das galt für Julians erste Ehe genauso wie für das Band-Gefüge. In den Texten ist manchmal das Wort "Kampf" zu hören, was unter anderem als Kampf gegen ein Umfeld zu werten ist, das Vorgaben machte, die nicht zum Lebensentwurf von Julian Cope passten. Aus diesem Druck heraus gestaltete der Musiker wohl als kreatives Ventil heraus diese scharfsinnige Singer-Songwriter-Platte, die bei aller Pop-Opulenz auch die Drogenerfahrungen von Cope erahnen lassen, welche sich in halluzinogenen Klangdarstellungen und einer skurril-kuriosen Dichtung materialisieren.

Jedenfalls hebt sich die Platte wohltuend auffällig von den Synthesizer-lastigen, Drum-Computer dominierten und unüberseh- und unüberhörbar an modischen Gesichtspunkten orientierten Veröffentlichungen der New Romantics aus der damaligen Zeit ab. Es soll aber nicht übersehen werden, dass es noch weitere anspruchsvolle, um zeitlose Pop-Musik bemühte Künstler aus Großbritannien in den 1980er-Jahren gab. Zu ihnen zählten unter anderem Elvis Costello, XTC, Squeeze, Joe Jackson, Prefab Sprout, Lloyd Cole und Scritti Politti.

"Wilder" wird von "Bent Out Of Shape" eröffnet, einem Song, bei dem sich eine schmerzlich leidende Melodie mithilfe von flehendem Gesang gegenüber einem holprigen Break-Beat-Rhythmus durchsetzt. Echte, protzige Blech-Bläser sorgen für Volumen, der Bass für Erdung, die Keyboards für verlockend-fremdartige Zwischentöne und der Gesang für emotionalen Tiefgang. Copes Zerrissenheit zwischen Pflicht und Aufbegehren wird poetisch auf den Punkt gebracht: "Mein ganzes Leben habe ich mich angepasst, siehst du nicht, dass es mich umbringt?"

Und dann sind da noch die feinfühligen, dunklen, bittersüßen Songs, wie "Tiny Children", ".....And The Fighting Takes Over" oder das nur aus Gesang und Synthesizer-Geräuschen bestehende "The Great Dominions". Gefühle wie Einsamkeit und Trauer mit Hang zur Verzweiflung wurden in die Noten injiziert und drängen sich unmissverständlich auf. Graue, wallende Synthesizer-Wolken verbreiten November-Stimmung und die Stimme tut sich schwer, Zuversicht auszudrücken. "Tiny Children" lässt zudem Unsicherheit erkennen und bettelt förmlich verschlüsselt nach Schutz ("Oh, ich könnte eine Mahlzeit aus dieser wunderbaren Verzweiflung machen, die ich fühle"). 

Das filigrane ".....And The Fighting Takes Over" reflektiert Copes zerbrochene Ehe ("Und ich bereue, was ich gesagt habe")

und "The Great Dominions" scheint unter anderem schlechte Drogenerfahrungen zum Inhalt zu haben ("Eine brennende Nacht löschte alle Spuren von Gefühlen aus"). Der Gesang hört sich an, als könne Julian den Song nur unter psychischen Qualen zu Ende bringen.
Alle drei Mini-Dramen besitzen eine enorm intensive Strahl- und Ausdruckskraft.

Neben dieser tiefgründigen Ausrichtung gibt es auch Songs, die musikalische Referenzen an das Erstlingswerk erkennen lassen: "Colours Fly Away" wartet mit einem draufgängerischen, fordernden Beat auf, auch wenn die seltsame Poesie oft Rätsel aufgibt ("Jemand schläft in meiner Dachkammer. Jemand beobachtet alles, was ich tue").

"Pure Joy" sowie "Passionate Friend" sind lupenreine Power-Pop-Songs mit schweißtreibenden Drums und stechenden, teils flirrenden Gitarren-Attacken, welche sich tapfer gegen die flotten Taktvorgaben und den zu romantischen Ausflügen neigenden Gesang behaupten.


Für "Seven Views Of Jerusalem" wird die Titelzeile als monotones Mantra über einen exotischen Rhythmus-Loop gelegt, was die beschwörende Wirkung des Tracks noch verstärkt. Daneben gibt es noch weitere fein abgestimmte instrumentale Zutaten, die den hypnotischen Grundgedanken stützen. Die Idee zu dem Stück hatte Cope während eines LSD-Trips, in dem er halluzinierte, dass William Blake auf Basis seiner "Jerusalem-Lyrik" sieben verschiedene Postkarten-Motive gemalt hätte.

Auch die kraftvolle, mit geschickten, unverhofften Dynamikverschiebungen versehene Ballade "Falling Down Around Me" wurde mit allerlei sorgsam ausgewählten Tonspuren angereichert, wobei sich diese Konstellation als raumfüllend, aber nicht überladen erweist. Dadurch wird das Lied zu einem betörenden, zu Herzen gehenden Ereignis.

Manche "Wilder"-Stücke weisen sogar eine spezielle Form von Funk auf. Dann entsteht eine besondere, geschmeidige Art von Pop-Groove, die druckvoll und auffallend ist, ohne jedoch den zarten Schmelz einer im Grunde genommen anschmiegsamen Veranlagung anzukratzen oder zu stören. Dazu gehört vor allem "Culture Bunker". 

Bei "Like Leila Khaled Said" fällt der Groove anders als bei "Culture Bunker" dezent-unterschwellig, also weniger offensiv aus. Das Stück ist ein Liebeslied an eine Frau, die 1969 und 1970 als palästinensische Flugzeugentführerin bekannt geworden war. Der Text transportiert aber keinen offensichtlich politischen Hintergrund, Julian fand Khaled einfach schön, sagte er damals. Er widmete ihr dann 2012 eine Platte der Doppel-CD "Psychedelic Revolution", nun feierte er sie allerdings öffentlich als seine Heldin.

Die Kunst der "Wilder"-Kompositionen besteht darin, dass trotz ihrer teilweise herausfordernden, knifflig-niveauvollen Bestandteile zugänglich, (be)greifbar und gewinnend bleiben. Das ist verwegener Pop für Personen, die sich gerne von klugen Songstrukturen mit herausragender Qualität verwöhnen lassen. Um diese ausgeprägte Stimmung realisieren zu können, war es sicherlich wichtig, dass Cope im Studio auf seine bewährten Kumpane David Balfe (Keyboards) und Gary Dwyer (Schlagzeug) sowie Neuzugang Troy Tate (Gitarre) als Rumpfbesetzung zurückgreifen konnte, weil sie mit seinen Konflikten und Drogenexzessen umzugehen wussten.

Nach "Wilder" kam 1982 noch die für den amerikanischen Markt zusammengestellte Mini-LP "Buff Manilla" heraus. Sie beinhaltete die 5-Track-EP "You Disappear From View" plus zwei weitere Stücke ("Christ Versus Warhol" und "Sleeping Gas (Live)"). Danach zerbröselte die Gruppe allmählich. Die hinterlassenen Versuche, ein drittes Album zusammenzustellen, wurden erst 1990 als "Everybody Wants To Shag...The Teardrop Explodes" veröffentlicht.

Die Doppel-CD-Wiederveröffentlichung von "Wilder" aus 2013 enthält neben "Buff Manilla" noch acht Stücke aus BBC-Sessions. Im Gegensatz zu den technisch überarbeiteten Ursprungs-Liedern sind sie nicht von herausragender Tonqualität, offenbaren aber eine leidenschaftliche Bühnenpräsenz. Die quantitative Aufwertung durch Bonus-Stücke ist aufgrund solcher intimen und wendigen Songs wie "Christ Versus Warhol", "Rachael Built A Steamboat", "Suffocate", "Soft Enough For You" und "Ouch Monkeys" oder dem lässigen Disco-Funk von "You Disappear From View" gelungen, weil sie die Wandlung von Julian Cope vom Pop-Star zum Art-Pop-Künstler logisch nachvollziehbar dokumentieren. Es gibt aber auch überflüssiges Füllmaterial, wie eine kaputte Live-Version von "Sleeping Gas" und das fade Instrumentalstück "East Of The Equator". Obwohl sich die Anschaffung der erweiterten Ausgaben grundsätzlich lohnt, wurde man als Fan durch die doppelten Re-Issues mit unterschiedlichen Ausprägungen (2000 + 2013) genötigt, sich das Album noch zweimal zuzulegen.

Julian Cope war nach dem Split von The Teardrop Explodes als Solo-Künstler tätig. 1984 erschienen seine ersten beiden Werke unter eigenem Namen ("World Shut Your Mouth" und "Fried"), die an "Wilder" anknüpften. "Saint Julian" aus 1987 war dann ein stromlinienförmiges, aber dennoch großartiges Album, das Julian auch auf deutschen Bühnen vorstellte. Mit "My Nation Underground" endete 1988 Copes jugendlich ungestüme Power-Pop-Phase. Danach veröffentlichte er Platten, die zum Beispiel "Peggy Suicide" (1991) oder "Jehovahkill" (1992) hießen und ihn als einfallsreichen, unkonventionellen, eigenartig-eigenständigen Singer-Songwriter auswiesen.

Er experimentierte in den Folgejahren mit psychedelischen Klängen, ließ Folk-Jazz anklingen, baute Kraut-, Space- und Underground-Rock-Elemente in seine Schöpfungen ein und richtete somit sein Tun nicht nach möglichst hohen Verkaufszahlen, sondern nach seinem Instinkt aus. Mit seinem Äußeren mutierte er vom Poster-Boy zu einer Erscheinung, die sowohl eine Hippie- als auch eine Heavy-Metal-Optik besaß. Die Geheimnisse der Druiden faszinieren ihn genauso wie die steinzeitlichen Baudenkmäler Großbritanniens und exzentrische Musikformen, die sich hin und wieder auf die eigenen Veröffentlichungen auswirken und hinsichtlich ihrer Bedeutung für ihn auf der "Head Heritage"-Homepage anhand von Rezensionen nachvollzogen werden kann. 

Der 1957 geborene Julian Cope ist auch in 2024 noch aktiv und bleibt bei seinen Sound-Eskapaden völlig unberechenbar. Das zeichnet ihn als großen Individualisten und unbeugsamen Künstler aus, der völlig unabhängig als beseelter Schamane, positiv unangepasster Querulant und enthusiastischer Künstler seine Visionen verwirklicht. Hut ab vor so viel Kreativität, Rückgrat und Durchhaltevermögen!

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